Nach dem erbärmlichen 1:2 in Hannover wächst beim HSV die Einsicht, dass man sich möglicherweise nur noch über die Relegation retten könnte

Hamburg. Horst Lichter hatte am frühen Sonntag alle Hände voll zu tun. HSV-Fans, die sich dem Spielerparkplatz vor der Arena zu sehr näherten, fing der beliebte Fernsehkoch mit einem freundlichen, aber bestimmten Lächeln ab. „Wo wollen Sie hin?“ und „Wie kann ich Ihnen helfen“, fragte Lichter in einem blauen Security-Outfit die all zu neugierigen Anhänger, die die Protagonisten des erbärmlichen 1:2 des HSV in Hannover am Tag danach doch bitte schön in Ruhe lassen sollten. „Bald will doch sowieso keiner mit denen sprechen“, antwortete ein ganz offensichtlich maßlos enttäuschter Fan, der sich auch von Lichters freundlichen Augen und seinem so typischen Zwirbelbart nicht besänftigen lassen wollte, „die steigen ab – und das ist auch verdient“.

Selbstverständlich war Horst Lichter nicht Horst Lichter, sondern irgendein verblüffend ähnlich aussehender, aber heillos überforderter Ordner, der noch immer das positivste Erscheinungsbild rund um die Arena am Tag nach der Hannover-Pleite abgab. Denn abgesehen vom mutmaßlichen Doppelgänger des sympathischen Kochbuchautors gab es am Sonntag so überhaupt nichts Spaßiges im Volkspark, wo noch eine Woche zuvor im Anschluss an das begeisternde 2:1 gegen Leverkusen Volksfeststimmung herrschte.

„So ein Spiel kann man nach drei Minuten nicht so einfach abhaken. Die ganze Mannschaft hat versagt“, sagte Sportchef Oliver Kreuzer auf dem vom falschen Lichter beschützten Parkplatz, als er genug von der schonungslosen Videoanalyse der ernüchternden Niederlage in Hannover gehört hatte. Die Zahlen des Grauens, die Kreuzers Erschütterung stützen: 5:31 Torschüsse, 47 zu 53 Prozent verlorene Zweikämpfe, 59 zu 70 Prozent Passgenauigkeit und zwei zu fünf Ecken. „Wir haben den Abstiegskampf nicht angenommen“, fasste Dennis Diekmeier die 90 tragischen Minuten zusammen, die für Kreuzer auch nach einmal drüber schlafen nur einen Schluss zuließen: „Mit so einer Leistung bleibt man nicht in der Bundesliga.“

Bei der Quintessenz waren sich eigentlich alle Hamburger einig, nur eine Erklärung für den wahrscheinlich schlechtesten Auftritt dieser Saison hatte niemand parat. „Wahrscheinlich steht die Mannschaft zurecht da unten“, sagte Trainer Mirko Slomka, den die Niederlage an alter Wirkungsstätte besonders mitgenommen zu haben schien. „Das war schon ein ziemlich bitteres Erlebnis“ gab der frühere 96-Coach unverblümt zu, „ich konnte mir vorher jedenfalls nicht vorstellen, dass wir hier so auftreten würden.“

Das viel größere Problem: Offenbar konnte sich auch kein Hamburger vorstellen, dass die zuvor angeknockten Hannoveraner in derart offensiver Art und Weise auftreten würden. Zwar wies Sportchef Kreuzer die Behauptung empört zurück, dass der vermeintlich große HSV den angeblich kleinen HSV zuvor unterschätzt habe, aber ein gewisses Erstaunen über Hannovers Auftreten stritt auch er nicht ab: „Wir waren überrascht von der Herangehensweise der Hannoveraner.“ So dauerte es gerade mal 119 Sekunden bis zur ersten von elf 96-Torchancen in der ersten Halbzeit, denen gerade mal ein Schüsschen durch Stürmerchen Jacques Zoua entgegenstand. Alleine 1:0-Torschütze Lars Stindl hatte nach 90 Minuten sage und schreibe doppelt so oft auf das Tor geschossen oder geköpft wie die gesamte Hamburger Mannschaft zusammen.

So ärgerten sich die Hamburger nach der Partie auch weniger über die Niederlage an sich, als viel mehr darüber, dass sie nach dem zwischenzeitlichen 1:1 durch Hakan Calhanoglu (48.) den geschenkt geglaubten Punkt nicht anzunehmen wussten. „Man muss auswärts auch mal mit einem Punkt zufrieden sein“, sagte Slomka, der in fremden Stadien in dieser Saison bislang noch immer als Verlierer vom Platz gegangen ist. So wurde auch die zuvor noch auf dem Index stehende Frage, ob der HSV einen Auswärts-Komplex habe, nach den 90 Minuten des Schreckens überwiegend bejaht. „Auswärts legen wir nicht den Mut an den Tag wie in Heimspielen“, sagte Kreuzer, „das Team kann es zu Hause besser als auswärts.“

Die viel wichtigere Erkenntnis, die das späte, übrigens aus einer Abseitsposition heraus vorbereitete 1:2 lieferte, war aber, dass man sich vier Spieltage vor dem Saisonende beim HSV offenbar so langsam mit dem Gedanken der Relegation als ultimativen Rettungsanker anfreunden muss. „Unser Ziel bleibt Platz 15. Aber wenn wir uns über den Umweg Platz 16 retten könnten, dann würden wir diesen auch annehmen“, sagte Sportchef Kreuzer, der ähnliche Gedanken noch vor wenigen Wochen erbost weit von sich gewiesen hatte.

„Wir dürfen jetzt nicht zusammenbrechen“, appellierte Calhanoglu, mit Nationaltorhüter René Adler der einzig verbliebene Hoffnungsträger, an das Durchhaltevermögen seiner Mannschaftskollegen. Er habe jedenfalls keine Angst, sagte der Deutschtürke, der zudem daran erinnerte, dass man am kommenden Wochenende zwar mit dem VfL Wolfsburg auf einen Champions-League-Aspiraten treffe, aber dass man ja immerhin zu Hause spielen würde. Da dürfte dann auch nicht mehr ins Gewicht fallen, dass das ohnehin üppig besetzte HSV-Lazarett nach der Pleite in Hannover noch mal prominenten Zuwachs bekommen hat (siehe unten).

Folgt man der HSV-Logik, spielt die abstiegsbedrohte Mannschaft ohnehin immer dann am besten, wenn eigentlich niemand mehr etwas von ihr erwartet. Das war gegen Dortmund (3:0) so, das war gegen Leverkusen (2:1) so, und das soll eben auch gegen Wolfsburg so sein. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagte in bester Phrasenschweinmanier Kreuzer, der vielleicht einfach mal einen Blick in das vorletzte Werk Horst Lichters werfen wollte. Der Titel: „Alles in Butter. Rezepte zum Glücklichsein.“