Der Hertha-Macher spricht im Abendblatt über den Kampf um den Titel, das Erfolgsrezept des Trainers und den Wechsel von Jerome Boateng.

Abendblatt:

Herr Hoeneß, Sie haben mit Ihrem Trainer Lucien Favre auf den deutschen Meister gewettet. Er hat auf Hoffenheim getippt, Sie auf Bayern. Gewinnt keiner?

Dieter Hoeneß:

Also, dass Hoffenheim nicht mehr Meister wird, ist sicher. Von daher wird Favre die Wette nicht gewinnen. Die Konstellation ist wirklich einmalig: Fünf Mannschaften fast gleichauf, vielleicht muss die DFL am letzten Spieltag vier Meisterschalen, weil Stuttgart ja in München spielt, für alle Fälle bereithalten.

Abendblatt:

Wie groß sind die Titelchancen von Hertha BSC?

Hoeneß:

Zum Zeitpunkt der Wette letztes Jahr stand das nicht zur Debatte, aber jetzt wäre es geradezu kindisch und sehr naiv zu sagen, wir hätten keine Chance auf den Titel.

Abendblatt:

Haben die fünf Teams an der Spitze die gleichen Chancen auf den Titel?

Hoeneß:

Ja. Keine Mannschaft wird alle fünf Spiele gewinnen. Ich glaube, dass es notwendig ist, 13 Punkte aus den letzten fünf Spielen zu holen, um deutscher Meister zu werden.

Abendblatt:

Wissen wir am Sonntagabend nach dem Hertha-Spiel in Hamburg mehr?

Hoeneß:

Ja, da könnte eine Vorentscheidung fallen, wenn wir drei Punkte holen würden. Denn dann haben wir zumindest auf dem Papier ein machbares Restprogramm.

Abendblatt:

Hertha BSC hat die meisten Spiele mit einem Tor Unterschied gewonnen. Wofür steht Herthas Fußball? Sind die Mannen von Trainer Favre die neuen Minimalisten der Liga?

Hoeneß:

So nennen uns die, die es nicht wahrhaben wollen, dass hier eine gute Mannschaft herangewachsen ist. Die Kommentare von Franz Beckenbauer kennen wir, das kommt halt immer darauf an, mit welchem Fuß er gerade aufgestanden ist. Der darf das, er ist unsere Lichtgestalt, und das meine ich nicht ironisch. Aber wir haben gar nicht so wenig Torchancen, wie es häufig dargestellt wird.

Abendblatt:

Laut Statistik benötigt Hertha für ein Tor nur drei Chancen und hat die Zeit des Ballhaltens pro Spieler auf weniger als eine Sekunde innerhalb der letzten sechs Monate halbiert. Sind das die Gründe für den Höhenflug?

Hoeneß:

Auch. Aber vor allem besticht unsere Mannschaft durch eine gute taktische Disziplin, wir sind mannschaftlich geschlossen. Wir haben auch sehr gute Einzelspieler, aber wir stellen das nicht so heraus, weil wir die Teamleistung über die Leistung des Einzelnen stellen. Ich würde sagen, wir spielen effektiv, erfolgsorientiert, nicht zwingend für die Galerie. Und unsere Spieler haben einen guten Charakter ...

Abendblatt:

..., weil sie ihre Schuhe selbst putzen und jeder Spieler nach jedem Sieg 50 Euro für die Betreuer spendiert?

Hoeneß:

Das machen wir nur für die Medien. Nein, im Ernst: Das ist selbstverständlich für die Spieler, und die gehen damit nicht groß hausieren oder an die Öffentlichkeit. Wir haben ja ganz bewusst den Charakter der Mannschaft geändert, 15 Spieler verkauft, darunter Talente wie die Boateng-Brüder, Fathi, Schorch oder Dejagah. Viele sagten, wir hätten unsere Zukunft verkauft, und das tat auch weh, weil wir viel Geld in diese Jungen investiert haben. Aber das war notwendig.

Abendblatt:

Jerome Boateng hat sich in Hamburg gut entwickelt.

Hoeneß:

Ich will das gar nicht im Einzelnen bewerten, denn das Problem war, dass sie sich immer als Gruppe im schwierigen sozialen Umfeld von Berlin bewegt haben und häufig unter einem gewissen Gruppenzwang standen. Insbesondere Jerome stand unter dem Einfluss seiner Berater und war so ein bisschen im Fahrwasser seines Bruders Kevin. Über ihre fußballerischen Qualitäten muss man nicht diskutieren, das war das Beste im Nachwuchsbereich. Deswegen haben wir die Wechsel nicht vorgenommen. Salihovic gehörte ja auch zu dieser Gruppe, und der hat sich im beschaulichen Hoffenheim auch prächtig entwickelt.

Abendblatt:

Hertha besticht durch mannschaftliche Geschlossenheit, heißt das im Umkehrschluss, die Elf hat keine überragenden Individualisten?

Hoeneß:

Ganz so ist es nicht. Mit Joe Simunic haben wir vielleicht den besten Abwehrspieler dieser Saison. Der Wert von Arne Friedrich wird immer dann besonders deutlich, auch in der Nationalmannschaft, wenn er nicht spielt. Mit Drobny haben wir einen der derzeit besten Torhüter der Liga. Auch Woronin und Pantelic sind Kaliber im Sturm, und wenn alle von Renato Augusto in Leverkusen schwärmen, muss ich sagen, dass Cicero bei uns mit sechs Toren und zahlreichen Vorbereitungen die deutlich bessere Quote aufweist. Aber unsere Spieler haben keinen Hang zur Selbstdarstellung, darauf legt der Trainer auch sehr viel Wert.

Abendblatt:

Was sind die Stärken von Lucien Favre?

Hoeneß:

Er hat alles, was ein Trainer können muss. Er setzt sich tagsüber - und ich glaube auch noch nachts - mit der Mannschaft und dem Thema auseinander. Das geht so weit, dass seine Frau für ihn nach bestimmten Kriterien ganze Spiele zusammenschneidet.

Abendblatt:

Was meinen Spieler wie Friedrich oder Nicu, wenn sie sagen, sie hätten noch nie solch ein gutes Training erlebt?

Hoeneß:

Jeden Tag wird bei uns im Training erarbeitet, was jeder Einzelne zu tun hat. Was ist auf dieser Position gefordert? Wie muss ich mich taktisch verhalten? Deswegen ist es schwer, gegen uns zu spielen, weil die taktische Ordnung fast in jeder Situation eingehalten wird. Es gibt viele Trainer, die eine gute Auffassung von Fußball haben, es aber nicht vermitteln können. Sie können es vielleicht noch an der Tafel erklären, aber es methodisch auf dem Trainingsplatz zu erarbeiten, so dass die Laufwege auch automatisiert sind, wenn man einen Spieler nachts um drei aus dem Bett holen würde, das zeichnet Favres Arbeit aus. Es klingt jetzt nach der Entlassung von Jürgen Klinsmann bei den Bayern vielleicht komisch, aber Favre macht die einzelnen Spieler wirklich besser.

Abendblatt:

Und was sind die Schwächen von Favre?

Hoeneß:

Er hat keine.

Abendblatt:

Solche Menschen gibt es nicht.

Hoeneß:

Natürlich hat jeder Mensch Schwächen, aber als Trainer fällt mir bei Favre nichts ein. Er betreibt eine akribische Spielvorbereitung, er weiß alles über den Gegner, auch wenn er nicht alles erzählt. Es gibt ja Trainer, die alles über den Gegner erzählen - und die Stärken des eigenen Teams vergessen.

Abendblatt:

Es gibt ja zwei Modelle der Vereinsführung in der Liga. In Wolfsburg und Hoffenheim regieren Felix Magath und Ralf Rangnick quasi allein, woanders haben die Manager bei Transfers das letzte Wort. Wo liegt die Zukunft?

Hoeneß:

Das Modell der Alleinherrschaft gibt es nur dort, wo Geld eine untergeordnete Rolle spielt. Wo man aber haushalten und langfristig planen muss, hat das Modell keine Zukunft. Ein Trainer kann das zeitlich gar nicht leisten und würde sich seinen eigentlichen Aufgaben nicht stellen können. Wenn man wie Felix Magath einfach investieren kann, ist das nicht so schwierig wie bei uns, wo wir häufig erst Spieler verkaufen müssen, um Neue verpflichten zu können.

Abendblatt:

Wer hat bei Hertha das letzte Wort bei Transfers?

Hoeneß:

Der Vorsitzende der Geschäftsführung, das ist bei uns ganz klar geregelt und auch so gewollt. Ich unterschreibe und hafte ja am Ende auch. Aber ich wäre ja dumm, wenn ich bei Verpflichtungen nicht sämtliche Kompetenzen im Verein einholen und nutzen würde, insbesondere die Meinung unseres Trainers bzw. Co-Trainers, aber auch der Scouts, von Michael Preetz und anderen Fachleuten sind mir wichtig. Das ist eine Teamarbeit, und am Ende muss ich entscheiden.

Abendblatt:

Als Ihr Präsident Werner Gegenbauer im Zusammenhang mit Herthas Aufschwung von "Dieter-Hoeneß-Festspielen" sprach, bestätigte er das Bild, das viele Außenstehende haben: Hertha BSC ist Dieter Hoeneß.

Hoeneß:

Ja, ja, ich weiß schon, das ist hier eine One-Man-Show, die anderen 70 Mitarbeiter in der Geschäftsstelle sind nur Attrappen et cetera. Aber im Ernst, das sind Klischees, die gerne bedient werden, aber mit der Wirklichkeit ganz wenig zu tun haben. Das nervt langsam. Es hängt wohl immer noch damit zusammen, dass Hertha, als ich hier anfing, in der Zweiten Liga vor im Schnitt 5000 Zuschauern gekickt hat. Damals, das ist richtig, musste ich vieles alleine machen, weil nur drei Mitarbeiter in der Geschäftsstelle gearbeitet haben. Natürlich habe ich die Entwicklung seit 1996 wesentlich mitgeprägt, und wenn man sieht, was vorher war und was heute ist, war das auch nicht so schlecht.

Abendblatt:

Macht das Geschäft mürbe, misstrauisch?

Hoeneß:

Nein. Natürlich braucht man ein gewisses Maß an Widerstandsfähigkeit, denn man muss aufpassen, dass man sich die emotionalen Achterbahnfahrten, die draußen nach zwei Siegen oder zwei Niederlagen stattfinden, nicht zu eigen macht, sondern seinen Weg weitergeht. Unbeirrt von Höhen oder Tiefen und eigentlich eher antizyklisch. Ich bin Optimist, wenn alle sorgenvoll durch die Gegend laufen. Und ich bin einer, der bremst, wenn alle jubeln, weil ich weiß, dass mit Euphorie eher Fehler verbunden sind.

Interview: Jan Haarmeyer