Als einziges Team zieht Deutschland ohne Punktverlust ins Viertelfinale. Dennoch muss sich das Team für den Titel steigern. Die Analyse.

Danzig/Lwiw. Die Stimmung an Bord des Charterfliegers von Lwiw nach Danzig hätte nicht viel besser sein können. Als die Maschine nach dem 2:1-Sieg der deutschen Mannschaft gegen Dänemark bereits hoch über den Wolken schwebte, wollte es sich Wolfgang Niersbach nicht nehmen lassen, die Euphorie der DFB-Delegation noch mal anzuheizen. "Ihr seid ein fantastisches Team", rief der DFB-Präsident unter Applaus ins Bordmikrofon, "was ihr geleistet habt, ist außergewöhnlich." Nach und nach nahm sich Niersbach jeden Einzelnen der Protagonisten vor, lobte Bundestrainer Joachim Löw ("allererste Klasse"), den Siegtorschützen Lars Bender ("im entscheidenden Moment warst du da") und Jubilar Lukas Podolski ("Wir sind froh, dass wir dich haben"). Letztgenannter, der kurz vor der Landung um 2 Uhr morgens mit "Rede! Rede!"-Rufen ebenfalls ans Bordmikrofon gebeten wurde, bedankte sich nach seinem 100. Länderspiel auf seine bescheidene Art und Weise: "Danke an alle - und ab ins Finale ...!"

Radtour und Familienabend für Deutschlands EM-Helden

Nach Deutschlands mit drei Siegen in drei Spielen historisch bester EM-Vorrunde scheint vor dem Viertelfinale gegen Griechenland am kommenden Freitag in Danzig der Weg bis zum Titelgewinn tatsächlich vorgezeichnet. 1:0 gegen Portugal, 2:1 gegen die Niederlande und 2:1 gegen Dänemark - Ergebnisse, die beeindrucken. "Wir sind unseren Ruf als Mitfavorit erst mal gerecht geworden", sagte Thomas Müller.

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Nach der Landung auf dem Boden der Tatsachen des Danziger Lech-Walesa-Flughafens wurde dann aber doch schnell deutlich, dass nicht alles Gold ist, was auf dem Statistikbogen glänzte. "Wir haben die Qualität, um weit zu kommen", sagte Abwehrrecke Mats Hummels und schränkte treffend ein: "Aber wir wissen auch, dass wir uns steigern können und steigern müssen." Das Abendblatt zeigt in den einzelnen Mannschaftsteilen auf, wo das Team schon titelreif ist - und wo noch nicht.

Torhüter

Obwohl Manuel Neuer bislang wenig geprüft wurde, konnte Münchens Keeper seinen Status als wahrscheinlich bester Torhüter der Welt untermauern. Neuer leistete sich keinen Fehler, nicht einmal eine Unsicherheit in den insgesamt 270 Spielminuten. An den beiden Gegentoren trifft ihn keine Schuld. Sein großes Plus: Durch die extreme Sicherheit, die er ausstrahlt, hilft er auch der Abwehr dabei, an Sicherheit zu gewinnen. Man weiß, dass, wenn es doch mal schiefgeht, da hinten noch der Neuer steht. Aufpassen muss er lediglich bei seinen so geliebten Ausflügen, die nicht immer notwendig scheinen.

Abwehr

Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet die seit der WM in Südafrika immer wieder kritisierte Abwehr scheint sich zum Erfolgsgaranten zu entwickeln. Besonders Mats Hummels und Holger Badstuber in der Innenverteidigung waren kaum zu bezwingen. Auch Linksverteidiger Philipp Lahm hat nach seinem schwachen Spiel gegen Portugal immer besser in das Turnier gefunden, ist mittlerweile wieder ein echter Leistungsträger. Lediglich die Position des Rechtsverteidigers bleibt offen - allerdings nur, weil sowohl Jerome Boateng in den ersten beiden Spielen als auch Lars Bender (siehe unten) gegen Dänemark überzeugen konnten. Die Reservisten Per Mertesacker, Marcel Schmelzer und Benedikt Höwedes müssen mit der Rolle als EM-Touristen leben.

Mittelfeld

Trotz dreier Vorrundensiege muss konstatiert werden, dass ausgerechnet das Herz der deutschen Spielkultur noch nicht wie gewünscht schlägt. Sowohl im defensiven als auch im offensiven Mittelfeld müssen sich die Protagonisten steigern. Auf der sogenannten "Doppelsechs" hatten Bastian Schweinsteiger und auch Sami Khedira vor allem gegen Dänemark Schwierigkeiten, die Toni Kroos nur zu gerne ausmerzen würde. Ein Wechsel im Viertelfinale gegen die Griechen scheint aber unwahrscheinlich. Das gilt natürlich auch für Mesut Özil, der im offensiven Mittelfeld bislang überhaupt noch nicht ins Spiel gefunden hat. Der in der Rückrunde lang verletzte, aber mittlerweile wieder genesene Mario Götze wäre eine Alternative, die Löw aber nicht wagen wird. Der Kampf um den Titel, das weiß der Bundestrainer, kann nur mit einem starken Özil gewonnen werden.

Einen Wechsel könnte es gegen die defensiven Griechen dagegen auf dem linken Flügel geben. Lukas Podolski, der trotz seines Tores nicht überzeugen konnte und ohnehin eher Platz für sein Spiel braucht, droht eine Ablösung durch André Schürrle oder Marco Reus. Während Schürrle schon EM-Luft schnuppern durfte, blieb dem zuletzt formstarken Reus nur die Rolle des Reservisten. Dabei wäre der zukünftige Dortmunder auch rechts für Thomas Müller eine Alternative. Keine Einsatzchance hat Reus' zukünftiger Mannschaftskollege Ilkay Gündogan.

Sturm

Dreifach-Torschütze Mario Gomez hatte in der Vorrunde eigentlich nur einen ernst zu nehmenden Gegenspieler: Mehmet Scholl. Und obwohl der ARD-Experte mit seiner Kritik an dem Stürmer zu weit gegangen ist, hatte er zumindest im Ansatz sehr wohl recht. In einem Spiel gegen defensiv eingestellte Mannschaften wie Dänemark oder auch am Freitag Griechenland hat Gomez seine Probleme. "Die tun immer so, als hätten sie nichts mit dem Spiel zu tun und dann schlagen sie plötzlich los", charakterisiert der Münchner das Spiel der Griechen und hätte Gleiches aber auch über sich selbst sagen können. Es bleibt aber fraglich, ob der traditionell konservative Löw einen Tausch vornehmen wird und Miroslav Klose bringt.

Trainer

Wie schon bei der EM 2008 und der WM 2010 schaffte es Löw, aus der Anhäufung an hoch talentierten Einzelkämpfern ein funktionierendes Kollektiv zu formen. Selbst potenzielle Störfaktoren wie Jerome Boatengs nächtliche Verabredung mit einer C-Prominenten und Bastian Schweinsteigers eigenwilliger Kurztrip nach Capri brachten den Bundestrainer zu keinem Zeitpunkt aus der Ruhe. Löw geht unbeirrt seinen Weg, der frühestens am 1. Juli in Kiew enden soll.

Kritische Nachfragen musste sich der 52-Jährige lediglich nach dem 2:1-Sieg gegen Dänemark gefallen lassen, als das Gegentor zum zwischenzeitlichen 1:1 aus einem klassischen Coaching-Fehler heraus entstand. Wie immer hatte Löw seine Spieler bei Standards im Raum verteidigen lassen, was sich bereits bei der ersten Ecke der Dänen, als der baumlange Nicklas Bendtner plötzlich der Gegenspieler des 1,83 Meter kleinen Bender war, als Schwachpunkt herausstellte. Löw reagierte zunächst nicht, was wenig später zu einer nahezu identischen Szene führte - mit dem Unterschied, dass die Dänen diesmal ins Tor trafen. Erst in der Halbzeit reagierte Löw und ließ Bender und Hummels ihren Raum bei Standards tauschen, was zu diesem Zeitpunkt fast zu spät war.

Fazit

Deutschland war vor dem Turnier einer der Favoriten auf den Titel - und das ist immer noch so. Steigern muss sich das DFB-Team aber trotzdem, besonders im Mittelfeld, sonst ist die Löw-Mannschaft am Ende nur einer der Favoriten, die überraschend straucheln.