Ich kann mich an keine Welt- oder Europameisterschaft erinnern, deren Verlauf derart wechselhaft war wie der dieser EM. In jeder Runde kombinieren sich andere Mannschaften in den Vordergrund. Die "Europameister der Vorrunde", die Niederländer und die Portugiesen, sind längst im Urlaub. Auch die Italiener haben es diesmal nicht geschafft, nach ihrer traditionell mäßigen Gruppenphase ins Spiel zu kommen. Die Franzosen, immerhin Vizeweltmeister, spielten überhaupt keine Rolle. Dieses anspruchsvolle Turnier frisst seine Favoriten.

Einer der Gründe könnte sein, dass der körperliche und mentale Aufwand für Siege unter annähernd gleichwertigen Teams immer größer wird. Das scheint sich in den K.-o.-Runden stärker zu rächen als in der Vergangenheit. Mittendrin und voll dabei, und das kann man nicht hoch genug bewerten, sind weiterhin die Deutschen. Sie stehen wieder im Finale. Dazu reichte ihnen eine starke Leistung im Viertelfinale gegen Portugal (3:2) und eine ansehnliche beim Auftakt gegen Polen (2:0). In den restlichen drei Begegnungen stimmte zweimal wenigstens das Ergebnis - gegen Österreich (1:0) und die Türkei (3:2) -, gegen die Kroaten (1:2) auch das nicht. Trotzdem halte ich dies für eine hervorragende Bilanz. Nur außergewöhnliche Mannschaften unterliegen während eines langen Turniers keinen Leistungsschwankungen; ganz gut, ja, aber außergewöhnlich ist unsere Mannschaft (noch) nicht.

Im Halbfinale gegen die Türken hätte ich dennoch nicht ein Zitterspiel bis zur letzten Minute erwartet. Bei allem Respekt vor der Moral, der Laufbereitschaft und der Leidenschaft der türkischen Elf, ihre Verlegenheitsabwehr hat uns doch förmlich zum Toreschießen eingeladen. Fast jedes Mal, wenn wir im gegnerischen Strafraum eintrafen, fiel auch ein Treffer. Leider haben wir uns dort selten aufgehalten. Unser Offensivspiel, ich muss es hier zum wiederholten Male beklagen, bleibt ein ernsthaftes Problem. Zum Glück sind wir sehr effektiv beim Ausnutzen unserer wenigen Torchancen. Schweinsteiger, Podolski, Klose und den Irrungen der gegnerischen Torhüter sei Dank.

Ich wehre mich jedoch dagegen, aus der Ferne zu möglichen Ursachen Erklärungen abzugeben, ohne interne Vorgänge im Detail zu kennen. Feststellen kann ich nur: Wie gegen Österreich war vom Anpfiff an kein Rhythmus zu erkennen, zu wenig Aggressivität, kaum Bewegung und nur in wenigen Situationen druckvolles Spiel. Den Gegnern wurden wieder zu viele Freiräume gelassen, gedanklich schien die deutsche Mannschaft selten auf Ballhöhe. Beide Gegentreffer, zum 0:1 und zum späten 2:2, hätten selbst in der Endphase ihrer Entstehung bei größerer Entschlossenheit und Aufmerksamkeit verhindert werden können. Die Türken dagegen waren viel präsenter - wie wir sechs Tage vorher bei unserer rauschenden Ballnacht gegen Portugal.

Wenn dann nach dem Abpfiff von deutschen Nationalspielern geäußert wird, es sei diesmal sehr warm gewesen, scheint es, dass sie sich nicht auf das Wesentliche, den Gegner und das Weiterkommen, haben fokussieren können. Vielleicht waren sie sich im Vorfeld zu sicher, dass sie das Finale erreichen werden, zu überzeugt, dass gegen die Last-Minute-Türken nichts schiefgehen werde. In dieser aggressionshemmenden Grundstimmung fällt es gewöhnlich schwer, alle Kräfte zu mobilisieren. Es ist auffällig: Fällt auch nur ein wenig Druck von der deutschen Mannschaft ab, wie beispielsweise nach der gelungenen EM-Qualifikation, sinkt die Konzentration und damit das Niveau des deutschen Spiels. Dann zeigt sich, dass die spielerischen Mittel fehlen, um einen Gegner zu dominieren.

Steht die Elf wiederum unter hoher Anspannung, ist sie Außenseiter und muss um den Erfolg fürchten, scheint sie leichter in der Lage, Besonderes zu vollbringen. Das stimmt mich optimistisch fürs Finale gegen Spanien. Dort wird unsere Konterstärke wieder gefragt sein. Die Qualität unserer Mannschaft, sofort in die Positionen zu gehen, den Gegner zu stellen, den Ball zu erobern und den schnellen Gegenangriff zu setzen, könnte entscheidend werden.

Läuft ein Spiel von Anfang an in die falsche Richtung, kann ein Einzelner meistens wenig bewirken, ein Ereignis schon. Gegen die Türken war es in der Mitte der zweiten Halbzeit das nicht geahndete Foul an Lahm an der Strafraumgrenze, das einen Mentalitätswandel zur Folge hatte. Es gab eine gemeinschaftliche Reaktion auf diese vermeintliche Ungerechtigkeit. Nach dieser externen Motivationshilfe hatte die deutsche Mannschaft ihre beste Zeit. Ich hoffe aber, dass unsere Elf am Sonntag auf diese Art Stimulation verzichten kann.


Felix Magath (54) wurde mit dem HSV dreimal deutscher Meister und zweimal Europapokalsieger.