St. Moritz. Bleiern schlummert das Käsefondue des Vorabends im Magen, und auch der Walliser Gebirgsfusel zeigt nachhaltige Wirkung. Ein genialer Moment mithin, die achtstündige Zugfahrt nach St. Moritz mit einem erquickenden Vormittagsnickerchen zu starten! Die EURO kann so schön sein...

Doch ein kollektives Kreischen der Sitznachbarinnen zerstört die innere Einkehr jäh. Auch die Freundinnen der asiatischen Reisegruppe hüpfen aufgeregt auf ihren Sitzen, schreien lautstark, quetschen ihre Nasen an die Panoramafenster des Großraumwagens. Ein Yeti in alpiner Höhe? Zombies in Zermatt?

Ein kontrollierender Blick an den aufgeregt wippenden Ladies vorbei beschert Entwarnung: Ursache der Begeisterung ist der schneebedeckte Gipfel des Matterhorns, majestätisch in der Sonne glänzend, von einem Wolkenring gekrönt. Ein Bild für Götter! Mindestens 50 Digitalkameras klicken im Sekundentakt. Um die Ruhe ist's geschehen. Elendig scheppert der Schädel.

Dafür beginnt die spektakulärste und lustigste Bahnfahrt aller Zeiten. Auf 291 Kilometern passiert der Glacier Express ein Naturwunder nach dem anderen. Im Zuckeltempo, durch sieben Täler, rauf und runter. Von Gipfel zu Gipfel in einem Zug, mit einem Höhenunterschied von 1400 Metern. 1930 erstmals gestartet, nutzen heutzutage 250 000 Passagiere jährlich eine der zugkräftigsten Attraktionen der Schweiz. Motto: Der Weg ist das Ziel. 88,65 Euro kostet das Vergnügen in der 2. Klasse, 147,35 in der 1. Hinzu kommen - je nach Saison - Zuschläge oder Reservierungsgebühren.

Dass diese Tour de Suisse indes eigentlich unbezahlbar ist, zeigt sich rasch. In 1600 Metern Höhe geht's vorbei an lieblichen Almen und schroffen Felsen, an üppigen Bergblumenwiesen und gewaltigen Wasserfällen, an reißenden Bächen, pittoresken Burgen, Gletschern und Gipfeln. Die Damen aus Fernost fallen von einem Jubelschrei in den nächsten. Natürlich auch beim Passieren von Teufelsbrücke und Schöllenen-Schlucht bei Andermatt.

Die fröhliche Truppe kommt aus einer Kleinstadt bei Osaka, verrät Yosha in einem raren Moment der Stille. Wie die Kommilitoninnen auch, hat sie sich der Schuhe entledigt, um besser auf den Polstersitz springen zu können. Alles schnattert durcheinander; das Chaos ist herrlich.

Offenbar halten sie den Mitreisenden für einen germanischen Buddha oder ähnlich Gottvolles - denn ihm werden Opfer dargebracht. Aus den Tiefen ihrer Taschen kramen die jungen Japanerinnen immer mehr Proviant: Chips, Kekse, getrocknete Bananenscheiben, Schokoriegel. Der Gang in den antik möblierten und mit edlen Hölzern verkleideten Speisewagen entfällt somit.

Dort hatten einst amerikanische Reisende ein Erlebnis der dritten Art, verrät Schaffner Christian Carlen (37) auf dem Oberalppass. Mit Unterstützung von Zahnrädern hievt die Lok den Glacier Express auf 2033 Meter.

Das mit den verblüfften Amis ereignete sich ein paar Kilometer weiter, in einem Tunnel. Eine desorientierte Kuh blockierte die Schienen, Schaffner Carlen ging nach vorne und geleitete das verstörte Rindviech am stehenden Zug entlang gen Ausgang. In Augenhöhe vorbei an den Steak mampfenden US-Touristen. "Sie dachten wohl, ich bringe Nachschub für die Bordküche", amüsiert sich Carlen noch heute.

Eine Japanerin begehrt Information über den Stand der EM. Gern gibt Fußballfan Christian Carlen Auskunft. Er ist Fan des FC Sion, kennt den ehemaligen HSV-Profis und gebürtigen Walliser Raphael Wicky persönlich und tippt auf ein Finale Holland gegen Deutschland.

Erneutes Kreischen unterbricht die Fachsimpelei: Die Eisenbahn überquert den Canyon der Rheinschlucht und steuert auf Chur zu. Derweil Yosha einen Landjäger probiert und schaudert, geht's über den 130 Meter langen und 65 Meter hohen Landwasserviadukt, ein beeindruckendes Bauwerk auf fünf gemauerten Pfeilern. Bei Albulalinie folgen sechs weitere Viadukte, drei Spiral- und zwei Kehrtunnel. Der Anblick raubt nicht nur Yosha & Co. fast den Atem. Überwältigend!

Um 17.43 Uhr erreicht der Glacier Express den Zielbahnhof St. Moritz. Willkommen im Mekka der Millionäre, dem Dorado der Gockel und Perlprinzessinnen. Der Jetset aus aller Welt pflegt sich hier, besonders im Winter, ein Stelldichein zu geben - zuletzt auch verstärkt aus Russland. Oft neureiche Gäste, so wird kolportiert, lassen dann die (eigenen) Puppen tanzen. Mit Bündeln Bares in der Tasche, großer bis größter Kauflust und mit nicht immer dem allerbesten Geschmack.

Die Japanerinnen schnallen ihre Rucksäcke über, verabschieden sich temperamentvoll und steigen aus.

Vom Bahnhof sind es zehn Fußminuten bis zum traumhaft gelegenen Waldhaus-Hotel. Auf der Terrasse mit Blick auf den See klingt ein Tag aus, der unvergessen bleibt. Blaue Stunde in St. Moritz - mit quellfrischem Mineralwasser.