Zwischen 2008 und 2011 sollen international 380 Spiele betroffen sein. In 300 weiteren Fällen wird ermittelt. Eine erschreckende Bilanz.

Rob Wainwright wirkt zufrieden, als er pünktlich um elf Uhr den Konferenzsaal von Europol in der Eisenhowerlaan 73 in Den Haag betritt. Die Resonanz ist beachtlich. Acht TV-Teams, vornehmlich aus Skandinavien und den Niederlanden, die BBC, Reuters, WDR sowie ein paar Dutzend Journalisten und Fotografen aus ganz Europa sind der Einladung des Europol-Direktors gefolgt. Schließlich hat er ihnen eine große Enthüllung für diesen Montagmittag versprochen. Und tatsächlich beginnt Wainwright seinen Vortrag mit dem Satz: "Wir konnten zum ersten Mal beweisen, dass die organisierte Kriminalität im Weltfußball operiert."

Die europäische Polizeibehörde hat nach jahrelangen Ermittlungen die Hintermänner der Wettmafia in Asien identifiziert. Die Dimension ist es, die Wainwrights Vortrag so erschütternd macht. Zwischen den Jahren 2008 und 2011 sollen insgesamt 380 Spiele manipuliert worden sein. In rund 300 weiteren verdächtigen Fällen laufen die Ermittlungen noch.

Wainwright bezeichnet den Tag seines Triumphes als "traurigen Tag für den europäischen Fußball. Für uns steht fest, dass es sich um den größten Fall aller Zeiten in diesem Bereich handelt. Die Manipulationen haben einen Stand erreicht, wie wir ihn noch nie hatten." Etwas mehr als eine Stunde berichten Europapolizisten von ihren Ermittlungsergebnissen. Nach Wainwright sprechen Ermittler aus Finnland, Ungarn und Slowenien. Deutschland wird von Staatsanwalt Andreas Bachmann und dem Leiter der Bochumer Ermittlungskommission "Flankengott", Kriminalhauptkommissar Friedhelm Althans, vertreten. Die beiden gehen allen nationalen Verstrickungen von Spielern, Trainern, Schiedsrichtern und anderen Offiziellen in Spielmanipulationen seit dem Wettskandal 2005 nach. Der vom Bochumer Landgericht abgehandelte Skandal um den Berliner Wettpaten Ante Sapina, bei dem es sich um 51 manipulierte Spiele gehandelt hat, ist in den Zahlen von Europol bereits enthalten. "Aus deutscher Sicht war das zum Großteil ein Fazit unserer Ermittlungen", sagt Oberstaatsanwalt Bernd Bienioßek.

Tatsächlich ist es eher eine Zusammenfassung der Arbeit und bereits bekannten Ergebnisse der vergangenen Jahre, die die Beamten um Wainwright dem Plenum präsentieren. Und so mancher im Saal kann sich ob der häufigen Erwähnung nicht vom Eindruck frei machen, dass dem Auftritt auch politische Motive zugrunde liegen. Zu wenig Geld für zu viel Arbeit stehe zur Verfügung, so die Aussage, die die Polizisten zwischen den Zeilen vermitteln. Was nichts an der Ohnmacht ändert, die durch die Wucht der vorgelegten Zahlen entsteht.

Zum Fußball gehören Gefühle, Euphorie, Teamgeist. Und klare Regeln. Das vielleicht größte Geschenk, das England der Welt gemacht hat. Die wichtigste dieser Regeln ist die des Fair Play. Viele haben geglaubt, sie austricksen zu können. Auch die deutsche Fußball-Bundesliga hatte das einmal getan. 52 Spieler aus sieben Vereinen, vom VfB Stuttgart über Hertha BSC Berlin bis zu Schalke 04, wurden in den 1970er-Jahren bestraft, weil sie an Ergebnis-Manipulationen beteiligt waren. Arminia Bielefeld und Kickers Offenbach wurden aus der Bundesliga verbannt. Mehr als jede andere ist die deutsche Liga seitdem auf Sauberkeit bedacht.

Und so zeigte sich auch Oliver Bierhoff, Manager der Fußball-Nationalmannschaft, gegenüber dem Abendblatt schockiert: "Wir müssen abwarten, ob diese Zahlen stimmen. Wenn sie stimmen, ist das beängstigend." Laut Europol sollen 425 Spieler, Schiedsrichter, Funktionäre und Kriminelle in den Manipulationen der vergangenen Jahre involviert gewesen sein. Namen der Verdächtigen will Wainwright mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht nennen. Betroffen sein sollen Spiele aus europäischen Top-Ligen, die Bundesliga gehört nicht dazu.

Es liegt in der Natur der Nachkriegsdeutschen, misstrauisch zu sein. Den Glauben an den Fußball aber geben wir nicht her. Nicht nach Wembley 1966, nicht nach Diego Maradonas Handtor bei der WM 1986, nicht einmal nach Thomas Helmers dreister Torlüge 1994 im Spiel des FC Bayern gegen den 1. FC Nürnberg. Anders als den Radsport haben wir den Fußball nie fallen lassen. Denn er ist eine deutsche Herzensangelegenheit: Trauerflor, Liebschaften unter Schiedsrichtern, all das gehört mittlerweile zum Fußball. Betrogene Fans hingegen nicht.

Vielmehr wurden sie jüngst regelrecht verzaubert, weil sich der deutsche Fußball zu einem wahren Ballett entwickelte. Nur einigen wenigen Kritikern blieben dabei die deutschen Tugenden zu sehr auf der Strecke. Dabei ist die größte aller Tugenden die Ehrlichkeit. Privat mögen wir uns durchs Leben schummeln, einige müssen das sogar. Im Stadion aber, da möchten wir ehrliche Freude erleben. Dafür bezahlen wir unser hart erarbeitetes Geld, und dafür setzen wir uns auch in Wintermantel und Mütze auf nasskalte Schalensitze. Selbst gegenüber den Launen des Wetters zeigen sich Fußballfans erstaunlich gleichgültig, gegenüber den Machenschaften der Wettmafia dagegen nicht.

Umso tiefer sitzt der Schock, wenn wir uns betrogen fühlen. So wie 2005, als der Wettskandal um Schiedsrichter Robert Hoyzer bekannt wurde. So wie 2009, als die europaweite Dimension bei Spielmanipulationen deutlich wurde. Mindestens 200 Spiele in neun europäischen Ländern waren verschoben worden, davon 32 Partien in Deutschland: vier Spiele der Zweiten Liga, drei der dritten, 18 Regionalligapartien, fünf Oberligaspiele und zwei aus dem Nachwuchsbereich. "Das Problem wird immer größer, weil immer mehr kriminell veranlagte Leute erkennen, dass sie mit geringem Risiko viel Geld verdienen können", sagt der Bochumer Kriminalhauptkommissar Friedhelm Althans: "Es gibt mittlerweile Täter, die wechseln vom Drogenhandel zu den Manipulationen."

Laut Althans setzen die Kriminellen bis zu 100.000 Euro für die Bestechung von Spielern und Schiedsrichtern pro Partie ein. "In 150 Fällen haben wir dafür Beweise", sagt der Beamte: "An einer Manipulation waren beispielsweise 50 Leute aus zehn Ländern beteiligt. Legale Fußballwetten kommen niemals an den Umsatz, wie ihn die Kriminellen aus Asien organisieren, heran. Die Spieler sind dabei nur die Hilfsarbeiter."

Schwacher Trost: Bei den 300 Spielen, die derzeit untersucht werden, geht es zu 90 Prozent um Begegnungen außerhalb Europas. Dazu gehören zwei WM-Qualifikationsspiele in Afrika und eines in Mittelamerika. Das war die eigentliche Nachricht, die Europol-Direktor Rob Wainwright an diesem leicht verregneten Montag von Den Haag mediengerecht mit den gesammelten Ermittlungsergebnissen der vergangenen fünf Jahre verpackte.