Hamburg. Der einstige Fußballzwerg Island ist spätestens nach dem 2:1-Achtelfinalsieg gegen England das Lieblingsteam aller neutralen Fans.

Seine Wutrede ist unvergessen. Am 6. September 2003 war es, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hatte sich in der Qualifikation zur EM 2004 in Portugal gerade zu einem 0:0 in Island gequält, als die Fragen von ARD-Moderator Waldemar Hartmann den deutschen Teamchef zu einem Ausbruch trieben, der selbst dem Hekla und dem Grimsvötn, die als aktivste unter den mehr als 30 Vulkansystemen der Atlantikinsel gelten, zur Ehre gereicht hätte. Rudi Völler beklagte die Arroganz der Medien, die gegen Fußballzwerge wie Island deutliche Siege voraussetzten. Völlers Schimpfkanonade („Sauerei, Scheißdreck“) mündete in eine These, die seine Nachfolger seitdem mantraartig nachbeten: „Es gibt keine Kleinen mehr im Weltfußball!“

Auch wenn das in der Zwischenzeit ausreichend widerlegt worden ist; zumindest Island hat spätestens mit dem 2:1-Achtelfinalsieg über England bei der EM in Frankreich am Montagabend eindrucksvoll seinen Abschied vom Zwergenstatus untermauert. Mit dem Triumph über das Mutterland des Fußballs, dessen Millionären die Auswahlkicker der 330.000-Einwohner-Republik gewöhnlich als Fans der englischen Topliga die Daumen drücken, hat sich die Auswahl des Cheftrainerduos Lars Lagerbäck (67) und Heimir Hallgrimsson (49) ihren Platz im Buch der größten Fußball-Überraschungen gesichert.

Und mehr als das: Aus einem Team, das wegen der Ansammlung lustiger Nachnamen – dass ausgerechnet Stürmer Kolbeinn Sigthorsson gegen England den siegbringenden Treffer erzielte, setzte den Wortspielen die Krone auf – belächelt wurde, ist eine gefürchtete Einheit geworden, vor der im europäischen Fußball nun auch die ganz Großen Respekt haben. „Der Sieg gegen England war für mich eine ganz große Überraschung“, sagte beispielsweise Bundestrainer Joachim Löw, „Island hat sehr, sehr gut gespielt. Dass sie so selbstbewusst und mutig waren, fand ich klasse.“ Island könnte, falls es am Sonntag im Viertelfinale gegen Frankreich die nächste Überraschung schafft, in der Runde der letzten vier auf den Weltmeister treffen – dessen Sieg über Italien am Sonnabend vorausgesetzt. Frankreichs Medien zittern bereits vor dem Duell mit dem EM-Debütanten. „Es handelt sich sicherlich nicht um ein Geschenk“, schrieb „Le Parisien“, und „France Football“ meinte: „Das ist weit weg von einem Vergnügen.“

Umso näher am Vergnügen waren am Montagabend mehr als 10.000 Fans, die in der Hauptstadt Reykjavik beim Public Viewing feierten – und vor allem die isländischen Spieler. „Ich glaube, unser Land steht kopf. Es ist ein stolzer Moment, er bleibt für den Rest des Lebens in unseren Erinnerungen“, sagte Mittelfeldregisseur Aron Gunnarsson, der bei Cardiff City in der Zweiten Liga Englands sein Geld verdient. Der bärtige Anführer hatte kurz zuvor in der Fankurve den Schlachtruf dirigiert, der dank der Erfolgswelle, auf der Island mit einem Sieg und zwei Remis gemeinsam mit Ungarn vor Portugal durch die Gruppenphase gesurft war, längst berühmt ist. Mit ausgebreiteten Armen stehen die Spieler nach Siegen vor ihren Fans, klatschen rhythmisch in die Hände und brüllen dabei ein „Hu!“, das von den Rängen tausendfach erwidert wird. Das wiederholt sich, bis ein wahres Inferno losbricht. Ausgedacht hat sich das Ritual der Fanverband „Tolfan“ („Zwölfter Mann“).

Strukturreform des isländischen Verbands

Die Stärke, die die verschworene Einheit aus Mannschaft und Fans – rund 30.000 sollen sich aktuell in Frankreich aufhalten – ausstrahlt, wird in diesem Moment fast greifbar. „Wir sind Wikinger, wir haben vor niemandem Angst. Jeder kämpft für den anderen mit“, sagte Ragnar Sigurdsson, der gegen England nur 80 Sekunden nach dem frühen Rückstand durch einen von Wayne Rooney verwandelten Foulelfmeter mit dem 1:1 zurückgeschlagen hatte.

Natürlich wurde in der Stunde des größten Fußballtriumphs nach dem Erfolgsgeheimnis gesucht, das Island innerhalb von vier Jahren in der Rangliste des Weltverbands Fifa um 99 Plätze auf Rang 34 emporklettern lassen konnte. Nationalheld Asgeir Sigurvinsson (61), in Deutschland als langjähriger Bundesligaprofi bei Bayern München und dem VfB Stuttgart bekannt, meint es in der Strukturreform des Verbands gefunden zu haben, die vor 15 Jahren eingeleitet worden war. Damals war mit dem Bau von großen Hallen begonnen worden, die mit Erdwärme beheizt werden und so einen Trainingsbetrieb auch im harten nordatlantischen Winter ermöglichten. „Durch diese Hallen haben wir uns technisch mit Sicherheit um 50 Prozent verbessert“, sagt Sigurvinsson.

Dass die Investitionen vor der Finanzkrise, die vom Zusammenbruch der drei großen Geschäftsbanken ausgelöst worden war und das Land zwischen 2008 und 2011 arg beutelte, getätigt worden waren, ist für Trainer Lagerbäck der große Segen. „Der Fußball profitiert davon immens“, sagt der Schwede. Dennoch sind die isländischen Profis allesamt im Ausland aktiv, keiner jedoch bei einem großen Club. Kein Spieler aus dem EM-Kader verdingt sich in der heimischen Liga, in der zwölf Teams zwischen Frühjahr und Sommer um die Meisterschaft kämpfen.

Island spielt vorhersehbar, aber umso leidenschaftlicher

Dass das Viertelfinale gegen Frankreich noch nicht das Ende aller Träume bedeuten muss, davon sind alle Isländer überzeugt. „Wir haben England besiegt, wir können auch Frankreich schlagen“, sagte Ragnar Sigurdsson. Und das stimmt: Island spielt zwar sehr defensiv und taktisch vorhersehbar, das allerdings so clever und leidenschaftlich, dass es für jeden Gegner eine hohe Hürde darstellt. Dazu kommen das neu gewonnene Selbstbewusstsein und die Gewissheit, die Sympathien aller neutralen EM-Beobachter auf sich zu vereinen.

Nur einem gefällt das, was Island in Frankreich veranstaltet, gar nicht. „Sie haben nur verteidigt, verteidigt, verteidigt. Und dann haben sie gefeiert, als wären sie Europameister geworden. Für mich zeugt das von kleiner Mentalität, deswegen werden sie nichts erreichen“, hatte Portugals Superstar Cristiano Ronaldo nach dem 1:1 im ersten Gruppenspiel geklagt. Auch ein Weltfußballer muss nicht immer richtig liegen.