Vor zehn Tagen gewann der Hamburger in Katar seinen WM-Titel in Weltrekordzeit. Doch mit 24 hat Markus Deibler genug vom Schwimmen — und will sich um seine Eisdiele kümmern.

Am Dienstagmorgen um 8.54 Uhr verschickte Markus Deibler eine schlanke Mitteilung via E-Mail und Facebook an Freunde, Bekannte, Sponsoren und Medien. 20 Zeilen ist sie kurz, Überschrift und letzter Satz bestehen jeweils nur aus einem Wort: Rücktritt, danke. Die Verknappung auf den Tatbestand lässt vermuten, dass da jemand einfach einen Schlussstrich ziehen wollte. Da bleibt dann kein Platz für Emotionen, Tränen oder Zweifel, kein Raum für Spekulationen um ein Comeback nach einem Jahr. Einer, der das Ende seines bislang erfolgreichsten Lebensabschnitts derart kühl formuliert, ist mit sich im Reinen. Andere ließ die Nachricht nicht kalt. Sie löste in der deutschen Schwimmszene Überraschung, Unverständnis, aber auch viel Respekt aus. „Das ist sehr bedauerlich“, sagt Christa Thiel, die Präsidentin des Deutschen Schwimmverbandes (DSV). „Aber man kann keinen an den Haaren ziehen und zum Bleiben zwingen.“

Kurz vor seinem 25. Geburtstag im Januar hat der Hamburger Schwimm-Weltmeister und -Weltrekordler seine Karriere für beendet erklärt, für die eigentlich erst in anderthalb Jahren der Höhepunkt vorgesehen war: die Olympischen Sommerspiele im August 2016 in Rio de Janeiro. Es wären nach Peking 2008 und London 2012 seine dritten gewesen. In Brasilien sollte er seine Laufbahn mit seiner ersten olympischen Medaille krönen.

Alle Planungen waren aber letztlich ohne den Menschen Markus Deibler gemacht. Der hatte, um es salopp zu formulieren, keinen Bock mehr auf Leistungssport, auf das tägliche Training, das frühe Aufstehen, auf die Entbehrungen, die ein Leben am Leistungslimit des menschlichen Körpers fordert. Zahlreiche Infektionskrankheiten, wahrscheinlich ausgelöst durch die extremen Belastungen – Hochleistungssport schwächt nun mal das Immunsystem –, hatten seinen Willen, seine Überwindung, sich immer wieder aufs Neue ins Training zu stürzen, extrem strapaziert und möglicherweise seine mentalen Kräfte aufgezehrt. Früher kollabierte er regelmäßig nach Wettkämpfen. „Er hatte als Supertalent immer mit seiner Anfälligkeit zu kämpfen“, sagt Ingrid Unkelbach, Leiterin des Olympiastützpunkts Hamburg/Schleswig-Holstein. „es war immer ein Drahtseilakt.“

Die Entscheidung war nicht spontan. Sie reifte im vergangenen halben Jahr. „Mein Leben bestand aus Training und verordneter Freizeit, sprich Regeneration, damit ich bis zum nächsten Training wieder zu Kräften komme. Der Erfolg war am Ende mein einziger Antrieb, mir ging nach und nach die Überzeugung verloren, dass ich das Richtige mache“, sagt Deibler. 30 Stunden trainierte er unter seiner langjährigen Trainerin Petra Wolfram in der Woche, 60 bis 70 Kilometer schwamm er dabei, jeden Morgen stand er um sechs Uhr auf. Sein Studium zum Wirtschaftsingenieur an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) am Berliner Tor hatte er früh schleifen lassen, „um wenigstens ein bisschen am Leben teilnehmen zu können“. Er wird es wohl nicht wieder aufnehmen.

Sein älterer Bruder Steffen Deibler, 27, Weltrekordler über 50 Meter Schmetterling, der Studium und Sport jahrelang mit ähnlicher Intensität und Disziplin erfolgreich betrieb, taugte für ihn nicht als Vorbild. „Ich bewundere ihn , wie er das alles schafft, das ist großartig. Ich war in letzter Konsequenz nie dazu bereit“, sagt Markus Deibler, der aber überhaupt keiner ist, der jammert. „Titel, Medaillen und Rekorde sind toll, aber das einzig Wichtige ist doch, dass man mit seinem Leben zufrieden ist. Zufriedenheit kann man nicht kaufen, die muss man leben. Deshalb bin ich mir absolut sicher, für mich die richtige Entscheidung getroffen zu haben.“

Sein Bruder Steffen, wie er Mitglied im Hamburger Schwimm-Club, erklärt: „Mir hat das Training immer mehr Freude gemacht als Markus, aber wir sind beide total diszipliniert.“ Er findet es „sehr schade, dass ich in Rio ohne meinen Bruder als Zimmerpartner auskommen muss, wir machen ja sonst immer alles zusammen, aber ich respektiere das. Es ist ja sein Leben, und er hat sich das gut überlegt, er ist ja nicht doof und hat auch die finanziellen Auswirkungen einkalkuliert.“ Steffen denkt, obwohl drei Jahre älter, noch nicht an Abschied: „Ich bin noch genauso heiß wie vorher auf Rio.“ Im Januar geht’s schon für zwei Wochen ins Trainingslager nach Brasilien. Markus wollte diesen allzu oft auch monotonen Weg nicht mehr gehen. Er hat genug hellblaue Kacheln in seinem Leben gezählt.

Selbst der Triumph bei der Kurzbahn-WM vor zehn Tagen in Doha (Katar), als Markus Deibler auf der 25-Meter-Bahn über 100 Meter Lagen (jeweils 25 Meter Schmetterling, Rücken, Brust und Kraul) im Endlauf vor der versammelten Weltelite um den Olympiasieger Ryan Lochte in neuer Rekordzeit anschlug, hatte ihn nicht umstimmen können. Alle Versuche seines Umfelds blieben erfolglos, auch in der Reduzierung des Trainingsumfanges sah er keine Lösung mehr. „Er war schon immer sehr klar, in dem, was er wollte. Ich ziehe den Hut vor seiner Entscheidung“, sagt Unkelbach. „Platt gesagt: Es ist ein Aufhören, wenn es am Schönsten ist“, meinte Markus Deibler am Dienstag schnörkellos zum Abendblatt.

Noch am Montag vergangener Woche war er am Terminal 2 am Fuhlsbüttler Flughafen von jubelnden Schwimmkindern empfangen worden. Mit einem goldenen, sternförmigen Helium-Luftballon und der Aufschrift „Super, Markus!“. Schon zu dem Zeitpunkt versprühte er trotz Goldmedaille in der Hand keine überbordende Freude, wirkte nachdenklich und antwortete einsilbig zu seinen Zukunftsplänen. „Ich wollte den Leuten ja nicht die Freude nehmen. Sie sind ja extra gekommen, um mich zu feiern. Das war nicht der richtige Zeitpunkt.“

Den hielt er nun für gekommen. „Schwimmen ist ein toller, cooler Sport, ich mache ihn, seit ich denken kann. Ich bin in meinem Leben schon weit über 10.000 Kilometer geschwommen. Es war eine super Zeit, ich durfte schöne Erfahrungen machen und blicke auf eine erfolgreiche Karriere zurück. Nun ist es für mich an der Zeit, neue Projekte anzugehen. Ich will meine Fähigkeiten dazu nutzen, unternehmerisch tätig und mit Luicella’s erfolgreich zu sein“, begründete Deibler in seiner Erklärung seinen Rückzug aus dem Wasser.

Luicella’s ist ein Eis-Café, das Deibler mit einer Freundin, einer Italienisch sprechenden Eisliebhaberin, seit knapp zwei Jahren in der Detlev-Brehmer-Straße 46 auf St. Pauli betreibt. Er ist dort vor allem für den Vertrieb und die Auswahl des Personals zuständig. Dem Projekt will er künftig seine ganze Energie widmen. „Bisher stand in meinem Leben Schwimmen ganz oben auf der Liste, dann kam unsere Eisdiele, danach lange Zeit nichts“, sagte Deibler, „künftig gibt es für mich nur die Eisdiele, und dann kommt lange nichts mehr.“

Im Luicella’s wird das Eis selbst hergestellt – für den Kunden sichtbar in alten italienischen Eismaschinen auf der Empore über der Verkaufsfläche. Die Zutaten, versichert Deibler, seien nur die besten. Der Slogan heißt: „Eine Kugel Lebensfreude“. Das hat seinen Preis. „Billig bringt’s nicht. Auf Dauer schon gar nicht. Wenn ich etwas mache, dann richtig und mit allen Konsequenzen“, sagt er. Der Grundstoff Milch kommt vom Milchhof Reitbrook im Südosten Hamburgs, wo die Kühe noch auf der Weide grasen. Haselnuss- oder Erdbeermark wird aus Italien geliefert, andere Ingredienzien morgens auf dem Markt gekauft. Keine Zusatzstoffe, keine Geschmacksverstärker lautet das Credo, das auch für Softgetränke gilt.

Den fair gehandelten Kaffee aus Afrika, schonend geröstet, liefert die Berliner Firma Coffee Circle. Ein Euro pro Kilo wird gespendet. Zum 3. Advent warb Luicella’s auf Facebook mit heißen Waffeln, getoppt mit Eissorten wie Haselnuss-Butterscotch, Milchkaffee mit karamellisierten Keksen, Cheesecake-Feige-Schoko, Schoko-Sorbet (vegan).

Bisher hat Markus Deibler in sein Unternehmen vor allem investiert, im nächsten Jahr will er das erste Mal mit seiner hippen Eisdiele Geld verdienen. Die Eröffnung eines zweiten Cafés ist geplant, „wenn wir die entsprechenden Räumlichkeiten und das Personal finden“. Schon jetzt verkauft er sein Eis an Hotels und Restaurants. Dieses Geschäftsfeld will er ausweiten.

Mit dem Rücktritt verliert Markus Deibler seine beiden Sponsorenverträge. Nach dem Weltmeistertitel und dem Weltrekord wären sie in den nächsten beiden Jahren höher dotiert gewesen als jemals zuvor in seiner Karriere. „Geld hat bei meiner Entscheidung keine Rolle gespielt. In Deutschland ist mit Schwimmen finanziell und von der Anerkennung her ohnehin kein großer Blumentopf zu gewinnen“, sagt er. „Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt, und auf diese Herausforderung freue ich mich.“ Dem Sport will er dennoch verbunden bleiben, zum Beispiel als Olympiabotschafter für Hamburg. Dass er im Oktober 2009 aus dem baden-württembergischen Biberach an der Riß nach Hamburg zog, hat er bis heute nicht bereut. „Hamburg ist eine großartige Stadt“, sagt Markus Deibler.