Bei den deutschen Meisterschaften in Ulm will Claudia Tonn am Wochenende zum zweiten Mal die B-Norm von 6,60 Metern erfüllen.

Hamburg. Hin und wieder braucht es Tage wie diesen, um Claudia Tonn bewusst zu machen, warum sie Leichtathletin geworden ist. Die Sonne taucht die Jahnkampfbahn in warmes Licht, es ist frühsommerlich mild, nicht zu heiß, nicht zu kalt. Von Nordosten geht ein leichter Wind, das hat sie sofort bemerkt: "Wir Weitspringerinnen sind da sehr sensibel."

Der Wind kann der schärfste Gegner sein, manchmal ist er aber auch ihr bester Freund. So war es Anfang Juni, als sie in Wesel sprang und erst nach 6,71 Meter wieder landete, nur vier Zentimeter vor ihrer persönlichen Bestweite. Ein Zentimeter weiter, und Claudia Tonn wäre wohl dabei bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften im August in Berlin. Nun muss sie am Wochenende alles hineinlegen: Bei den deutschen Meisterschaften in Ulm will sie zum zweiten Mal die B-Norm von 6,60 Metern erfüllen. Aber vier weitere wollen das auch. Mindestens.

Dieser eine Zentimeter. Bestimmt zehn hat sie in Wesel bei der Landung verschenkt, das hat die Videoauswertung ergeben. Keine in Deutschland springe derzeit so konstant weit wie die 28 Jahre alte Studentin von der LAV Hamburg-Nord, meint Uwe Florczak. Seit vier Jahren ist der Männer-Bundestrainer ihr persönlicher Coach. Im vergangenen Herbst zog er von Paderborn nach Hamburg um. Seine Meisterschülerin folgte ihm und bildet nun eine Trainingsgruppe mit der sechs Jahre jüngeren Anika Leipold vom Athletik-Team Hamburg, die sich in Wesel sensationell auf 6,67 Meter steigerte.

Noch pendelt Claudia Tonn zwischen altem und neuem Wohnsitz, zwischen ihrem Bonner Freund, einem früheren Bobfahrer, ihrer Masterarbeit in Gesundheitswissenschaften, über der sie nachts brütet, und der Weitsprunggrube, in der sie sich schon als Siebenkämpferin wohl fühlte. Mit ihrer Vielseitigkeit hat sie es 2004 zu den Olympischen Spielen geschafft, "da habe ich mich selbst überrascht".

Doch dann meinte es der Sport nicht gut mit ihr: Die EM 2006 verpasste Tonn wegen einer Verletzung, in der Olympiasaison 2008 wurde die examinierte Physiotherapeutin von drei Knieoperationen zurückgeworfen. Sie dachte daran aufzuhören, den Berufseinstieg zu wagen, in einer Krankenkasse zum Beispiel oder einer Behörde. Schließlich, die WM im eigenen Land vor Augen, reifte die Entscheidung, es noch einmal im Weitsprung zu versuchen, auch wenn sie mit dem Herzen immer noch am Mehrkampf hängt: "Dieses Gefühl, eine Familie zu sein, gibt es sonst in keiner Disziplin." Sie fühlt sich immer noch als Teil davon. Beim Meeting in Götzis, dem Familienfest der Mehrkämpfer, will sie auch weiterhin dabei sein, das hat sie sich geschworen.

An manches in ihrem neuen Sportlerleben muss sich Claudia Tonn noch gewöhnen. "Als Siebenkämpferin hat sie über ihre Sprünge nicht viel nachgedacht", sagt Florczak, "jetzt grübelt sie viel." Es sind ja auch überall noch Kleinigkeiten zu verbessern: Kraftwerte, Sprungtechnik, Anlaufgeschwindigkeit. Claudia Tonn weiß, dass sie das Potenzial für 6,80 Meter hat, das haben ihr die Biomechaniker vorgerechnet. Sie muss diesen einen, großen Sprung nur noch aufs Brett bringen. Am liebsten mit ein bisschen Rückenwind.