Nach dem Sieg gegen den Weltranglistenvierten trifft der 31-Jährige heute auf den Italiener Andreas Seppi.

Hamburg. Der Zuschauer in der dritten Reihe unten links auf dem Centre-Court gehörte zu den glücklichen Gewinnern des Tages. Nicolas Kiefer hatte sein durchschwitztes Tennisshirt ins Publikum geworfen. Der Mann schräg vor ihm streckte sich, fing das Textil mit einer Hand und reckte es triumphierend in die Höhe - unter dem frenetischen Beifall der Menge. Kiefer verbeugte sich. Der ohnehin schon tosende Applaus schwoll noch einmal an.

Szenen wie diese wären noch vor einem Jahr am Rothenbaum unmöglich gewesen. Nicolas Kiefers Beziehung zu Hamburg war gestört. Bei neun Auftritten hatte der Hannoveraner gerade einmal das Achtelfinale erreicht, zuletzt vor sieben Jahren. Nicht immer, empfanden die Besucher, hätte er in seinen Matches alles gegeben. Arroganz unterstellten ihm viele, seine selten glücklichen Äußerungen vorher und seine Erklärungen hinterher trugen zur allgemeinen Missstimmung bei.

Das Klima hat sich radikal gewandelt. Nicolas Kiefer ist in diesen warmen Frühlingstagen zum neuen nationalen Tennishelden am Rothenbaum aufgestiegen. Und er kann diese Rolle genießen. "Ich beginne Hamburg richtig zu lieben", sagte er, als er sich nach seinem 7:5, 6:3-Erfolg gegen den Russen Nikolaij Dawidenko über Mikrofon für die Unterstützung der Zuschauer bedankte. Der 30-Jährige hatte erstmals das Viertelfinale am Rothenbaum erreicht. Das war als zuvor letztem Deutschen Tommy Haas 1999 in seiner Heimatstadt gelungen. Mit dem Weltranglistenvierten Dawidenko und am Vortag dem -zehnten Stanislas Wawrinka hatte er zudem erstmals seit drei Jahren zwei Top-ten-Spieler in Folge besiegt. "Mit euch im Rücken", fuhr Kiefer fort, "werde ich in diesem Turnier hoffentlich noch sehr weit kommen." Es waren ehrliche, gefühlsbeladene Worte. Später sagte Kiefer, er wäre am liebsten bis zum nächsten Morgen auf dem Platz stehen geblieben. Er musste nach drei Minuten gehen. Der Spanier Rafael Nadal betrat zu seinem Match den Platz.

Dass Kiefer vor den Großen der Szene zurückzutreten hatte, schien sein sportliches Schicksal in den vergangenen Jahren. Verletzungen warfen den Hochtalentierten ständig zurück, der vierte Platz in der Weltrangliste, den er einst im Januar 2000 einnahm, blieb bis heute ein unerreichtes Ziel. Im Augenblick notiert ihn der Computer als 41. Die Stabilität, zu der er in Hamburg zurückgefunden hat, war ihm unter vielen Selbstzweifeln abhanden gekommen. Dem neuen Erfolg misstraut er deshalb ein wenig. "Jedes Match beginnt von vorn", versuchte Kiefer gestern Abend die Erwartungen zu dämpfen. Ein Sieg gegen den ungesetzten Italiener Andreas Seppi heute Nachmittag würde ihm am Sonnabend wohl ein Halbfinale gegen den Schweizer Branchenprimus Roger Federer eröffnen. "Stopp!", sagt Kiefer zu solchen Gedanken, "die vermeintlich leichtesten Matches sind die schwersten."

Was Kiefer im Mai 2008 am Rothenbaum auszeichnet, ist seine Körpersprache, sein Siegeswille, seine Emotionen. Schläger und Ball beherrschte er schon immer, jetzt beherrscht er auch sich selbst. Das ist entscheidend in kritischen Situationen, die Kiefer auch gegen Dawidenko durchlebte: Als er im ersten Satz beim Stande von 5:5 eine 4:0-Führung verspielte und einen Breakball des Russen abwehren musste, schlug Kiefer ein Ass. Anschließend durchbrach er Dawidenkos Service zum Gewinn des ersten Durchgangs. So spielen Champions.

Wie er den Abend ausklingen lassen werde, wurde Kiefer gefragt. "Ich werde wie immer in den letzten Tagen ein Eis essen." Das mag die richtige Einstimmung auf das Match heute sein. Die schönen Tage am Rothenbaum, sagen die Meteorologen, sind vorbei. Das muss nicht für Nicolas Kiefer gelten.

Blog: Inside Rothenbaum