Den US-Sprintstar trennen nur noch 46 Schritte vom Dreifachtriumph.

Osaka. Er kam spät, aber sein Endspurt war unwiderstehlich: Mit aufgeblasenen Backen und aufgerissenen Augen stürmte Tyson Gay vier Tage nach dem 100-m-Sieg bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften von Osaka als dritter Sprinter der Geschichte zum Double und ließ sich auch vom höllischen Anfangstempo des jamaikanischen Blitzes Usain Bolt nicht schocken.

Nach den glänzenden 19,76 Sekunden im 200-m-Finale bei starkem Gegenwind von 0,8 m/Sekunde ist der 25-Jährige schon jetzt der Superstar der elften Titelkämpfe. "Ich war noch zu müde, das ist noch kein Rennen für die Hall of Fame", meinte ein erschöpft wirkender Gay, nachdem er im Zieleinlauf ausgepowert auf der Bahn gehockt hatte. "Der Sieg über 200 m ist sehr süß. Es war ein hartes Stück Arbeit, und der Erfolg bedeutet mir mehr als der über 100 m", sagte er.

Es dauerte lange, ehe er die Glückwünsche der Konkurrenten in Empfang nehmen konnte und sich mit der US-Flagge auf die Ehrenrunde begab. Triumphierend streckte er zwei Finger in die Höhe. Nur langsam entspannten sich dabei seine Gesichtszüge. Letztlich chancenlos waren der in der Heimat "Blitz-Bolt" getaufte Jamaikaner Usain Bolt (19,91) und Gays Trainingspartner und Vizeweltmeister von 2005, Wallace Spearmon (20,05).

Nur noch 46 schnelle Schritte trennen Gay nun vom zweiten Sprint-Tripel der WM-Geschichte. Jetzt noch ein Staffelsieg mit den favorisierten Amerikanern - dann hat es der 25-Jährige seinem Landsmann Maurice Greene gleichgetan: Sein Vorbild ("Ich bin stolz, wie er das Doppel geschafft zu haben") war 1999 in Sevilla dreifacher Weltmeister. Nebenbei könnte Gay am Sonnabend sein Prämienkonto um weitere 60 000 auf 180 000 Dollar aufstocken.

Manche hatten schon gedacht, der kernige Kerl aus Kentucky greife sogar nach dem Fabelweltrekord von Michael Johnson (19,32 Sekunden) und 100 000 Dollar Extra-Preisgeld. Bei den nationalen Meisterschaften in Indianapolis hatte Gay 19,62 Sekunden vorgelegt - die zweitschnellste je gelaufene Zeit auf der halben Stadionrunde. Im Nagai-Stadion war der US-Boy dann nach 19,76 Sekunden im Ziel, flinker als irgendein Sprinter jemals bei einer WM.

Im Gegensatz zu Greene, der immer als Großmaul galt, liebt Marketing-Student Gay die leisen Töne. Ob er nun der stärkste Sprinter sei? "Das bin ich erst, wenn ich immer und immer wieder gewinne, auch in der Halle", sagte der neue Weltmeister. Und der größte WM-Star? "Das kann ich nicht sagen, es gibt noch andere, die Großes leisten."

In Bolt hatte Gay einen unerwartet starken Antreiber. "Usain war stark am Anfang, ich musste hart arbeiten, um ihn wieder einzufangen. Aber ich sollte ihm für das schnelle Rennen dankbar sein", erklärte Gay. Der Jamaikaner im kanariengelben Trikot klebte dem Favoriten lange an den Fersen und freute sich am Ende über Silber.

Zum dritten Mal hintereinander flatterte nach einem 200-Meter-Rennen das Sternenbanner: 2003 in Paris hatte John Capel triumphiert, 2005 in Helsinki der inzwischen des Dopings überführte Justin Gatlin. Gay hatte vor zwei Jahren als Vierter noch zuschauen müssen, wie seine US-Konkurrenten Gatlin, Wallace Spearmon, der diesmal in 20,05 Sekunden Dritter wurde, und Capel die Medaillen umgehängt bekamen.

7000 Meilen entfernt in Orlando (Florida) freute sich ein Gefängnisinsasse über Gays Triumph. Sein Trainer Lance Brauman, mit dem der Sprinter in den vergangenen Tagen immer wieder telefonierte, durfte sich bereits über das dritte Gold "seiner" Athleten freuen: Die Jamaikanerin Veronica Campbell hatte ebenfalls die 100 m gewonnen.

Brauman sitzt eine Haftstrafe wegen Unterschlagung, Scheckbetrugs und Diebstahls ab. "Ich danke dem Trainer, meiner Familie und Gott", sagte Gay, der vor jedem Rennen betet. Die im Halbfinale aufgetretenen Probleme in der Oberschenkel-Rückseite waren keine mehr: "Im Rennen habe ich nichts gespürt, nur vorher ein bisschen. Ich habe Gott vertraut, dass er mir die Kraft für diesen Lauf geben würde", sagte der tiefgläubige Christ.