Der Polizeimeister aus Oberhof liebt es, seine Grenzen auszuloten. Schmerz ist für ihn zu einer Sucht geworden.

Pyeongchang. Auf dem Siegerpodest zog er eine Fratze und versenkte bei der Nationalhymne die Hände in den Hosentaschen. Überhaupt machte er den Eindruck, als sei ihm die Sache mit dem Gewinn der Silbermedaille höchst unangenehm. "Zu kommerziell" ging es Christoph Stephan (23) nach den 20 Kilometern und einer fulminanten Schlussrunde zu. Stephan, der nur von Olympiasieger Ole Einar Björndalen geschlagen wurde, war der Trubel gar nicht recht: "Ich mag es nicht, im Mittelpunkt zu stehen."

Aus der für ihn unkommoden Situation gab es kein Entrinnen. Techniktrainer Mark Kirchner fiel ihm um den Hals, Olympiasieger Ricco Groß klatschte ihm auf die Schulter, die Fernsehleute zerrten ihn vor die Kameras zum Interview. WM-Silber wurde im Lager der Deutschen gefeiert wie eine Erlösung, denn die Expertenprognosen für die Einzelwettbewerbe der Männer waren nicht gerade rosig. Und die übrigen im Team - Michael Rösch auf Platz 18, der dreimalige Olympiasieger Michael Greis einen Rang dahinter und Alexander Wolf als 30. - enttäuschten tatsächlich allesamt, vor allem im Schießstand.

Allein Stephan zielte präziser und räumte 19 von 20 Scheiben ab. "Sensationell", jauchzte Sportdirektor Thomas Pfüller, und Männer-Cheftrainer Frank Ullrich jubelte eingedenk der Dominanz Björndalens, der trotz dreier Strafminuten souverän seinen 13. WM-Titel einheimste und nun vor Alpin-Idol Ingemar Stenmark als erfolgreichster Wintersportler der Geschichte gilt: "Silber ist für uns wie eine Goldmedaille."

Dabei hätte der mit 1,87 Metern für einen Biathleten hoch gewachsene Hoffnungsträger aus Oberhof seinen fulminanten Durchbruch bei der WM fast vertagen müssen. Ullrich wollte ihn nicht nominieren, weil er im Schießstand bei böigem Wind große Schwächen zeigte. Erst mit der Abreise Andreas Birnbachers, der sich eine Virusinfektion zuzog, rutschte Stephan ins Starterfeld. Ullrich war es, der Stephan die Nervosität nahm und die Zielsicherheit zurückgab. "Er hat mir gesagt, komm, konzentrier dich mal, jetzt probieren wir es noch mal - und plötzlich konnte ich auch im Wind schießen."

Im Ziel schloss der Lehrer seinen Schüler in die Arme, beide wischten sich die Tränen aus den Augen. Das enge Verhältnis geht weit über die übliche Sportler-Trainer-Beziehung hinaus. "Uller hat mir den Sinn des Sports gezeigt", sagte Stephan. Ullrich lobte das "Kämpferherz" des Polizeimeisters, der wie so viele Kollegen über den Langlauf vor drei Jahren zum Biathlon kam. Er sei einer, der sich schinden könne. "Es macht mir Spaß, mich zu quälen", sagt Stephan.

Aber Stephan und Ullrich eint noch mehr. Beide mussten den Tod einer nahestehenden Person verkraften. Ullrich verlor früh seine Frau, Stephan betrauerte vor anderthalb Jahren den Verlust seines Vaters. "Ihm widme ich diese Medaille", sagte Stephan gestern. Der Perfektionist und Mann für Extreme begann vor drei Jahren, seinen mächtigen Oberkörper mit Tattoos zu verzieren. "Es ist wie eine Sucht, dieser Schmerz, davon willst du immer mehr", sagt er. Einmal auf den Geschmack gekommen, wird er jetzt vielleicht süchtig nach dem Erfolg.