Der Kaiser und sein Hofstaat kamen zur Sommerfrische nach Usedom. Noch heute beeindrucken die prächtigen Villen und langen Sandstrände.

Blankenese hat eine kleine Schwester. Sie ist Ostdeutsche, weniger zurückhaltend-hanseatisch, steht gern in der ersten Reihe und sieht etwas hübscher aus - was sie allerdings dem Lifting zu verdanken hat, das ihr Deutschland in den vergangenen Jahren spendierte. Wer über die Promenade in Heringsdorf spaziert, erlebt eine komprimierte Elbchaussee: Eine wunderschöne Villa nach der anderen, manchmal könnte man guten Gewissens von kleinen Schlössern sprechen, und das Wasser liegt ebenfalls direkt vor der Haustür. Nur dass es hier auf Usedom eben die Ostsee- anstatt der Elbluft ist, die den Gebäuden über ihre zu Recht hoch getragenen Nasen weht. Freitreppen und Marmorsäulen, Giebel, Ornamente, Türmchen und Pilaster ergeben zusammen die nahezu lückenlose Bäderarchitektur, die die Orte Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin prägt. Die sogenannten Kaiserbäder sollten eigentlich als verpflichtende Dienstreise für Architekten und Historiker gelten.

Hinter jeder Tür an der Strandpromenade verstecken sich Geschichten um Prominente. In der Villa Staudt empfing die verwitwete Konsulingattin Elisabeth Staudt auffallend häufig den reiselustigen Kaiser Wilhelm II. - offiziell natürlich nur zum Teetrinken. In der Villa Anna komponierte Johann Strauß Walzer, in der Villa Irmgard erholte sich Maxim Gorki von seinem Lungenleiden, während sich Kurt Tucholsky über die festen Essenszeiten im "Weißen Schloß" ärgerte. In der Villa Fontane saß der Dichter, der schon als Kind auf Usedom gewesen war, am Manuskript von "Effi Briest" und verfasste nebenbei lobende Worte über die Insel: "Man hat Ruhe und frische Luft und diese beiden Dinge wirken wie Wunder und erfüllen Nerven, Blut, Lungen mit einer stillen Wonne."

Heute sehen das mehr als 1,2 Millionen Übernachtungsgäste im Jahr ähnlich. Sie kommen wegen des 42 Kilometer langen und bis zu 70 Meter breiten Strandes, dessen Sand selbst bei kritischster Körnchen-Begutachtung tatsächlich die Bezeichnung "fein wie Puderzucker" verdient. Beim persönlich durchgeführten Burgen-Test erwies er sich zudem als 1-a-Baumaterial, und da er jeden Morgen frisch geharkt wird, knacken beim Joggen nicht einmal Muschel-Bruchteile unter den Schuhen. Apropos: Wer es gewohnt ist, andernorts vor sieben Uhr den Strand für sich allein zu haben, wird auf Usedom enttäuscht. Da wird gejoggt und gewalkt und gestreckt und geatmet - zum Glück gibt es genug frische Seeluft für alle. Auch Platz am Meer ist reichlich: Deutschlands zweitgrößte Insel darf mit einer 8,5 Kilometer lange Promenade angeben. Es ist schon jetzt die längste in Europa, und sie soll noch weiter bis nach Swinemünde in Polen ausgebaut werden. Brighton und Scheveningen erscheinen dagegen wie kurze Sackgassen. Zumal sie eben nicht über das mondäne Flair verfügen, das die glanzvollen Villen der Kaiserbäder ausstrahlen. Loggien ermöglichen das Sehen und Gesehenwerden, das hier um die Jahrhundertwende mehr als heute gepflegt wurde. Usedom war das Sylt der Kaiserzeit. Die Herrschaften reisten zur Sommerfrische (heute würde man eher Wellness sagen) an, und die Damen präsentierten auf den Promenaden den aktuellen Pariser Schick.

"Die Häuser stehen immer noch, und jede Generation dekoriert sie mit neuen Geschichten", sagt Jörg Gleissner. Der 55 Jahre alte Koch bietet ganz besondere Rundgänge durch Heringsdorf an. Er weiß nicht nur, in welchem Fachwerkhaus beispielsweise erst der Zahnarzt von Wilhelm II. und später Hitlers Rechtsanwalt wohnte oder welche Jagdhütte Stasi-Chef Mielke die liebste war, sondern er gilt auch als Erfinder der "Neuen Pommerschen Küche". Jahrelang hat er in alten Kochbüchern und in Zeitschriften recherchiert, was im Goldenen Zeitalter Usedoms auf den Tisch kam: Honigkrebse, Schwarze Nüsse, Gründonnerstagssuppe oder auch Fischpralinen, die man heute in seinem Restaurant Stellwerk am Bahnhof probieren kann. Zugegeben eine kulinarisch herausfordernde Kombination. Auf den Geschmack kommt man dennoch, und zwar wenn Gleissner zu erzählen beginnt: Wann als legitimer Scheidungsgrund "weil sie das Essen versalzt" galt. (Im 16. Jahrhundert.) Wie zu DDR-Zeiten viele Usedomer Familien zeitweise in ein Zimmer zogen, um dem Gästeansturm gerecht zu werden: "Im Sommer wurde hier jede Hundehütte vermietet." Wo die Leute früher für eine Kohlroulade Schlange standen und sogar den Kellner überrannten. Wie Ölsardinen gegen eine Handwerksleistung getauscht wurden und warum sich viele Einheimische über das neue Hotel Steigenberger aufregen. "Wir Usedomer schimpfen erst mal", sagt Gleissner und erklärt die Mentalität der Insulaner: "Es dauert ein halbes Jahr, bis sich ein Pommer öffnet, aber dann haben Sie einen Freund für immer."

Die Slawen nannten die Insel Uznan - Land am Wasser, und genau dort liegen fünf weitere Gründe für einen Ausflug an die Pommersche Riviera: die Seebrücken. "Nu könn' se uff'n Wasser loofen", klebte an Berliner Litfaßsäulen, als die Heringsdorfer Seebrücke 1893 eingeweiht wurde. Heute ermöglichen außerdem Zinnowitz, Koserow, Bansin und Ahlbeck Spaziergänge über die Ostsee. Am hübschesten ist der Landungssteg in Ahlbeck. 208 Meter strahlendes Weiß, eine hölzerne Gaststätte und vier stolze Türme - davor knien die Strandkörbe im Sand.

Wer dem Meer noch näher kommen will, geht bei Eddy Stoll an Bord. Er bringt Touristen zu Plätzen, "an denen das Wasser schöner glänzt als auf den Malediven". Eddy Stoll ist einer der letzten Fischer Usedoms. Er kommt von der Arbeit, wenn andere Leute aufstehen, war in den vergangenen 30 Jahren angeblich keinen Tag krank und sieht genauso aus, wie man sich einen Fischer vorstellt: dicker Bart, dicker Bauch, dicke Lippe: "Wir werden regiert von Verrückten. Diese Schacherei um Quoten und Zuteilung hat unseren Beruf kaputt gemacht." Zu DDR-Zeiten habe er zwei bis fünf Tonnen Hering am Tag gefischt, heute dürfen es nur noch 200 Kilo sein. Dabei sei der Fisch aus der Ostsee hervorragend, vor allem der Aal: "Den können Sie nach dem Räuchern mit dem Strohhalm schlürfen!" Oder der Schnäpel, den die Gastronomen hier Steinlachs getauft haben. "Der Name wurde aus der Not geboren, weil die Touristen eher bestellen, was sie zu kennen glauben."

Der 47-Jährige unternimmt seine Rundfahrten auf einem eigens von ihm aus England überführten Katamaran, denn dieser Bootstyp sei seit Jahrhunderten der beste überhaupt. Die Polynesier tourten darin um die ganze Welt, jetzt erlebt der Katamaran, der auf den Namen "Carmen Calypso" getauft wurde, hier genau wie die ganze Insel eine Renaissance. "Das Moderne haben die Urlauber doch zu Hause", sagt Stoll. "Auf Usedom bekommen sie das Alte, das Echte."

Lesen Sie morgen: In der Prignitz erwarten Sie eine Bilderbuchlandschaft, viel Geschichte und Architektur sowie ein paar lustige Eier.