Sardiniens Nordküste hat ihren eigenen Charme. Das weiß auch seit Längerem der Jetset. Jetzt gilt es, die Seele der Gegend zu wahren.

Gerade weht bloß eine leichte Brise um seine Nase. Kein Sturm, nicht mal ein schmalbrüstiger, der ihm wieder ein wenig an die Substanz ginge, was sonst häufig vorkommt. Wie ein stummer Wächter thront der riesige Bär 122 Meter über der Meerenge nahe dem Archipel La Maddalena, den Blick starr nach Westen gerichtet. Dicht unter ihm hocken sprachlose Urlauber, die letzten Sonnenstrahlen aufsaugend, andere knipsen eifrig aus allen Winkeln, in der Hoffnung das unglaubliche Bild festhalten zu können.

Capo d'Orso - das Bärenkap, eine märchenhafte Granitskulptur am Nordzipfel Sardiniens, glatt und ausgehöhlt wie ein überdimensioniertes Stück Emmentaler, ein Brocken Natur, der auch spielend aus der Kulisse eines berühmten Zeichentrick-Films entliehen sein könnte, tatsächlich jedoch in Millionen von Jahren aus der Landmasse modelliert; von der unablässigen und erosiven Kraft, die Wind und Wasser hier veranschaulichen. Trotzdem, die ganze Szenerie erinnert verblüffend an die legendäre Serie mit Fred Feuerstein und Barney Geröllheimer ...

Dort, wo Granit und Porphyr bergeweise die skurrilsten Formationen an der Küste auftürmen und das Land wegen ihrer Minerale rosa leuchtet, dort, wo die duftende Macchia vom ewigen Wind und dem Hunger der Schafe flach gehalten wird, und dort, wo das Meer unisono kitschig klar in allen Türkistönen schimmert und sauber wie bestes Trinkwasser scheint, liegt ein bezaubernder Landstrich: die Gallura.

"Salve, nun komm schon endlich rein, lass uns Caffè trinken", raunzt der kleine, unrasierte Mann an der Bar vor seiner verchromten Gaggia-Espressomaschine. Alles hier in seinem Reich ist stark reduziert auf das Wesentliche, geradlinig wie unprätentiös. Oben ein simples Strohdach, unten auf dem groben Steinboden eine Handvoll Sand-körner, sonst schlichtes und abgegriffenes Holz. An der Bar goldbraune, noch warme Brioches, die duftend unter der transparenten Plastikhaube auf ihr baldiges Ende warten.

Draußen, zwei Handtuchlängen vor der Terrasse, die sanfte Begleitmusik halbwüchsiger Wellen. Inzwischen tauchen erste Sonnenstrahlen die sichelförmige Bucht südlich von Olbia in warmes Licht und erwecken sie wieder zu neuem Leben. "Caffè trinken, was willst du um die Uhrzeit sonst Anständiges tun?", nuschelt der alte Hugo grinsend und macht sich ans Werk. Er war früher der beste Billardspieler der Insel, und an der Espressomaschine dürfte ihm auch kaum einer etwas vormachen. "Wenn du wirklich guten Caffè willst, musst du die Maschine, je nach Wetter, jeden Tag neu einstellen, immer wieder. Verstehst du das, mein Junge?"

Der Norden Sardiniens besticht durch seine karge, herbe und ganz eigentümliche Note, getragen vom aufrichtigen Stolz, der Zurückhaltung und dem manchmal rauen, aber herzlichen Charme der Menschen. Landschaftlich verziert von bizarren Felsküsten - dazwischen Sandbuchten, dass einem die Spucke wegbleibt -, knorrigen Korkeichenwäldern und weitläufigen Talzügen, die den würzigen Duft der Macchia über das Land ziehen lassen.

Der liebe Gott muss es gut gemeint haben mit diesem Fleck, das mag sich auch der milliardenschwere Ismaelit Prinz Karim Aga Khan Anfang der letzten 60er-Jahre gedacht haben. Mit sicherem Instinkt zogen er und der Bier-Mogul Pattrick Guinness damals die wenigen, meist armen Bauern und Hirten über den Tisch. Für ein Butterbrot kauften sie ihnen den 55 Kilometer langen, vermeintlich wertlosen Küstenstreifen Monti di Mola, der fortan Costa Smeralda heißen sollte, ab. Bis heute gilt das Postkartenidyll als schillernde Drehscheibe und Laufsteg des internationalen Jetset. Zwar flossen enorme Geldmengen, um das Land hier neu zu gestalten, nur profitierten die Sarden selbst kaum von den Investitionen, weshalb sie gern von der "Costa Rubata", der geraubten Küste, sprechen. In den VIP-Reservaten der mondänen Hafenorte Porto Cervo und Porto Rotondo pocht ein künstlich geschaffenes Glitzerleben, das prinzipiell der recht blutarmen Selbstinszenierung dient. Hier schippern die Putins und Berlusconis dieser Welt bräsig in seichtem Küstengewässer umher, schlendern leicht bekleidete Supermodels auf ihrer Bussi-Ciao-Flaniermeile von Party zu Party. Und die sterile wie pompöse Welt des Luxus bietet durchaus so manche Überraschung, etwa die Rechnung für einen Milchkaffee, der für zehn Euro über den Tresen geht. Oder, für ganz Geduldige, die Aussicht, einen kurzen Blick nicht auf Wale oder Delfine, nein, eher auf Naomi Campbell oder Angelina Jolie erhaschen zu können. Eigens dazu hat sich inzwischen ein populärer Sport und Zeitvertreib, nämlich das "Yacht-Watching", etabliert. Das funktioniert ungefähr so: Mal grimmig, mal lech-zend dreinblickende Schlauchbootfahrer harren stundenlang in sengender Hitze vor der Küste aus, tuckern im Kreis an den Riesenyachten vorbei, um eventuell für Sekunden den Bikini von Julia Roberts oder die Badeshorts von Wladimir Putin erspähen zu können. Nur dieSeele Sardiniens sucht der Reisende in dieser Ecke vergebens.

Die spürt man beispielsweise rund um den prächtigen Aussichtsberg Monte Limbara, in Tempio Pausania, der urigen Hauptstadt der Gallura mit ihren unverputzten Granithäusern. Oder in Olbia, einer quirligen Hafenstadt, deren ganzes Flair besonders spätnachmittags in voller Blüte steht. Und wen es aufs Meer und in die herbe Schönheit der Natur zieht, dem fallen im Norden Sardiniens ohnehin fast pausenlos die Augen aus dem Kopf. Die vielleicht reizvollste Art, diesen Küstenabschnitt zu entdecken, dürfte die an Bord eines Segelschiffs sein. Die Inselwelt vor Palau, rund um den Archipel La Maddalena, zählt zu den begehrten Revieren für Segler. Die oft ziemlich knackigen Winde locken sogar international hochkarätige Regatta-Events in diese Gewässer. In welche Himmelsrichtung man auch segelt oder vor Anker geht, um zu verweilen, es kann nicht wirklich verkehrt sein. Geschätzte Fehlerquote: minimal.

Leider sind manche Plätze, wie die berühmte "Spiaggia Rosa" (rosa Strand) auf der Isola Budelli, so unverschämt schön, dass sie in ihrer ursprünglichen Pracht nicht mehr existieren, weil die Menschen den Strand buchstäblich mit nach Hause genommen haben. So wanderte der Sand der einst wundervoll rosa schimmernden Bucht in die Taschen und Rucksäcke der Badeurlauber - bis fast nichts mehr übrig war. Heute ist dort leider Sperrgebiet. Nur ein Mensch, vielleicht mit dem Traumjob schlechthin, darf noch hier rumlaufen: der Wächter in seiner kleinen Strandhütte. Also eine Art professioneller Sandburgenhüter, der, wer weiß es schon genau, vielleicht heimlich einzelne Körner sammelt und hemmungslos genussvoll allein in Familie Feuersteins Märchenland planscht.