Die Anonymität senkt die Hemmschwelle, über andere in den sozialen Netzwerken zu lästern. Inzwischen gibt es an vielen Schulen ein Handyverbot

Die Schüler sind nur undeutlich zu erkennen. "Es geht los", ruft jemand. Dann fallen zwei Schüler übereinander her, einer von ihnen hat sich eine Kapuze über den Kopf gezogen. Er drängt den anderen gegen die Wand, ringt ihn zu Boden, wirft sich auf ihn. Einige andere Schüler schauen zu.

Eine kurze Filmsequenz, die damit endet, dass der Schüler ohne Kapuze auf dem Boden liegt und schützend die Hand vor den Kopf hält. Jeder kann sich diesen 16-Sekunden-Film ansehen. Er läuft bei YouTube und ist unter dem Stichwort Alstergymnasium Henstedt-Ulzburg zu finden. Ein Film, den ein dritter Schüler offenbar mit dem Handy gefilmt hat. Ob hier tatsächlich jemand verprügelt wird oder ob die Szene "gespielt" ist, ist nicht ersichtlich. Zumindest sieht es verbissen aus, wenn der unterlegene Schüler zuschlägt und sich anschließend zu schützen versucht. Aufgenommen offenbar während des laufenden Schulbetriebs, denn die Geräuschkulisse ist beträchtlich. 2926-mal wurde er bis Freitag aufgerufen.

Was auf diesem Film zu sehen ist, hätte auch in jeder anderen Schule aufgenommen werden können. Es geht auch schlimmer: Heimlich gemachte Fotos oder Filme in der Nachbarkabine der Schultoilette. Betroffene Schüler erleben oft ein wochenlanges Martyrium. Cyber-Mobbing heißt diese "moderne" Form der Demütigung von Mitschülern. "Es ist eine niedrigschwellige Form des Mobbens", sagt Uli Tondorf, Mitarbeiter der Aktion Kinder- und Jugendschutz Schleswig-Holstein. "Man muss es den Menschen nicht ins Gesicht sagen. Jeder kann leicht alle erreichen, die beteiligt sein sollen." YouTube ist eher die Ausnahme, in der Regel wird die Plattform Facebook gewählt, weil hier gezielt angesprochen werden kann. Das soziale Netzwerk ist die übliche Kommunikationsbasis unter Schülern. "Das Opfer lebt mit der Ungewissheit und weiß nicht, wen die Nachricht schon erreicht hat."

Mobbing ist in vielen Schulen ein Thema, auch wenn es von vielen Schulleitern eher heruntergespielt wird. Cyber-Mobbing ist eine neue Dimension. Es wird vielfach von Schülern der siebten und achten Klassen angewendet: Die sind mit dem sozialen Netzwerk "groß" geworden. Sie gehören zur Generation der "Digital Natives": Junge Menschen, die mit dem Internet aufwachsen. Denen es selbstverständlich scheint, dass jeder Mensch ein Handy besitzt, dass man Zeitungen, wenn überhaupt, am Bildschirm liest und nach den Lösungen der Hausaufgaben googelt. Die Zehn-, Zwölf- oder Vierzehnjährigen bewegen sich im Netz so selbstverständlich wie auf dem Schulhof. Es ist inzwischen die übliche Kommunikationsform unter Klassenkameraden geworden. Damit aber ist der übliche häusliche Schutzraum aufgehoben. "Es gibt kaum noch Schonräume", sagt Uli Tondorf. Die Studie "EU Kids Online 2010" belegt, dass jedes achte Kind im Internet schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht hat, indem es etwa mit Pornografie oder Mobbing konfrontiert wurde.

Deshalb ist das Risiko, Opfer von Cyber-Mobbing zu werden, größer als beim "herkömmlichen" Mobbing. Die Anonymität senkt die Hemmschwelle, über andere zu lästern. Jeder kann Opfer von Cyber-Mobbing werden, oft sind es schon geringe Anlässe, die Auslöser für Internetschikanen sein können. Für die Betroffenen ist es quälend, nicht zu wissen, wer dahinter steckt.

Die Schulen bemühen sich, das Thema Mobbing in den Griff zu bekommen. Im Alstergymnasium besuchen vor allem junge Lehrer entsprechende Fortbildungsangebote, in der Orientierungsstufe fährt jede Klasse für drei Tage in die Segeberger Jugendakademie - wegen des Zusammenhalt der Klassen. Außerdem kümmern sich drei Beratungslehrer um eventuelle Mobbingvorkommen. "Mobbing spielt immer eine Rolle an der Schule", sagt Schulleiter Michael Höpner. "Ein Allheilmittel gibt es dagegen nicht." Um Cyber-Mobbing in den Griff zu bekommen, herrscht am Alstergymnasium - ebenso wie in vielen anderen Schulen auch - ein striktes Handyverbot. Nur in besonderen Fällen - und dann auch nur nach Absprache mit den Eltern - dürfen Handys benutzt werden. Schüler, die mit Handys herumhantieren und dabei erwischt werden, müssen es abgeben. Es wird anschließend den Eltern ausgehändigt.

Uli Tondorf von der Aktion Kinder- und Jugendschutz ist skeptisch: "Auf der technischen Ebene ist das Problem nicht zu lösen." Er rät Eltern, wachsam zu sein. "Sie müssen sich interessieren und ansprechbar sein. Die Eltern sollten Wege finden, um technisch auf dem Laufenden zu bleiben." Zudem müssten die Lehrer allen Eltern klar machen, dass ihr Kind ein potenzielles Mobbingopfer sein kann. Um die Lehrer aufzuklären und vorzubereiten, haben verschiedene Einrichtungen aus Schleswig-Holstein kürzlich in der Jugendakademie Segeberg eine Fachtagung zur Mobbing-Intervention in Schulen angeboten - es gab mehr Anmeldungen als Plätze. Denn es ist nicht leicht für Lehrkräfte, Situationen einzuschätzen.

"Mobbing tritt in Schulen nicht zufällig auf, sondern ist auf Strukturen zurückzuführen, die sich aus gesellschaftlichen, schulspezifischen, sozialen und persönlichen Bedingungen ergeben, die sich wechselseitig beeinflussen", sagt Petra Linzbach vom Kinder- und Jugendschutz Stormarn.

Hilfe bei Mobbing gibt es bei der Erziehungs-, Lebens- und Eheberatungsstelle in Norderstedt, Kirchenplatz 1a, Telefon 040/525 58 44, und beim Sozialwerk Norderstedt, Ochsenzoller Straße 85, Telefon 040/523 73 80.