Bewohner leben unter menschenunwürdigen Bedingungen. Der Vermieter lässt das Gebäude verkommen, Randalierer ziehen durchs Haus.

Kaltenkirchen. Wenn aus der Ferne Martinshörner zu hören sind und die Blaulichter langsam näher kommen, dauert es nur wenige Augenblicke, bis auf Facebook die ersten Meldungen auftauchen. Sätze wie "Was ist denn jetzt wieder los?" oder "Brennt es?" werden blitzschnell in die Rechner gehämmert. Stefanie Braukhane schickt dann ihren Freund auf den Balkon im Nebentrakt. Er soll nachsehen, ob die Feuerwehr oder nur der Rettungswagen vor der Tür steht, wie viele Fahrzeuge ausgerückt sind und ob Rauch aufsteigt.

Die Übersicht aus dem fünften Stock des Großen Karls ist gut. Meistens fährt nur der Rettungswagen vorbei. Kommt jedoch die Feuerwehr mit mehreren Fahrzeugen, steigt die Zahl der Meldungen auf Facebook rasant. Stefanie Braukhane sitzt vor dem Laptop, liest gierig jede Neuigkeit und hofft, dass bald die Entwarnung kommt, die ihr die Angst nimmt. "War nur ein Rauchmelder - nichts passiert", hat einer gepostet. Erleichtert setzt sich Stefanie Braukhane wieder auf das Sofa und nimmt ihren Sohn Nico in den Arm, der vor 18 Monaten zur Welt gekommen ist "Ich möchte nur in Ruhe leben", sagt die 29-Jährige. "Doch das kann ich hier nicht."

Im Großen Karl funktioniert keine einzige Klingel

Seit zwei Jahren lebt sie im Großen Karl. 13 Stockwerke hoch ragt der graue Betonklotz in den Himmel von Kaltenkirchen. Der wuchtige Bau am Flottmoorring fügt sich in die bürgerliche Kleinstadt ungefähr so gut ein wie ein Ziegelstein in die Idylle einer Modelleisenbahnlandschaft. Woher der Kasten aus den 60er-Jahren mit seinen etwa 230 Bewohnern den sympathischen Spitznamen bekommen hat, wissen nicht einmal die alten Kaltenkirchener. Sympathisch ist an dem Hochhaus gar nichts.

Hier funktioniert keine einzige Klingel, die Treppenhäuser sind beschmiert und verdreckt. Die Türen zu den Räumen mit den Müllschluckern stehen offen, andernfalls wäre der Gestank kaum zu ertragen. An vielen Lichtschaltern fehlen die Plastikdeckel. Das ist der erste Eindruck.

Doch es kommt noch schlimmer: Behördenfachleute für Bau und Brandschutz sind fast täglich in dem Haus unterwegs, um die Sicherheitseinrichtungen zu überprüfen. Die Brandschutztüren schließen nicht richtig. Bei Dunkelheit funktionieren viele Lampen in den Treppenhäusern und Laubengängen nicht. "Bei einer Evakuierung bekommen wir dann ein echtes Problem", sagt Feuerwehrchef Thomas Schwedas.

Seine Kameraden sind mit der maroden Immobilie bestens vertraut. Regelmäßig müssen sie ausrücken, um Menschen aus stecken gebliebenen Fahrstühlen zu retten. Und um gefährliche Brände zu bekämpfen, die die Mieter immer wieder in Angst und Schrecken versetzen.

Zwischen Weihnachten und Neujahr waren 300 Feuerwehrleute im Einsatz, nachdem unterm Dach ein Brand ausgebrochen war. Der automatische Rauchabzug funktionierte nicht, sodass die Einsatzkräfte die Verschlüsse mit Leitern einschlugen. Mehrere Etagen wurden geräumt. Ein Tag, den Stefanie Braukhane nicht vergessen kann. Seitdem brennt es im Großen Karl immer wieder. Vor wenigen Wochen loderten Flammen in einem Fahrstuhl, jetzt besteht der Aufzug nur noch aus einem verkohlten und verbogenen Haufen Schrott.

Damit bleibt Daniela Hartmann (Name von der Redaktion geändert) nur noch ein anderer, altersschwacher Lift, den sie mit ihrem Rollstuhl erreichen kann. Doch regelmäßig bleibt der Fahrstuhl stehen. "Dreimal in der Woche hänge ich im Haus fest", sagt die 25-Jährige, die mit ihren beiden Katzen Nele und Zünche ebenfalls im fünften Stock des Hochhauses wohnt. Die Menschen in den oberen Etagen reagieren bei einem Fahrstuhldefekt verärgert, wenn sie Einkäufe und Kinder schleppen müssen. Für Daniela Hartmann bedeutet ein Ausfall das Ende ihrer Bewegungsfreiheit.

Als Technische Zeichnerin kann sie nicht mehr arbeiten. Die tückische Nervenkrankheit namens Hereditäre Spastische Spinalparalyse lähmt zunehmend die Beine der zierlichen jungen Frau. Nur langsam kann sie ihre Schritte machen. Auf dem Laubengang steht der 180 Kilo schwere Elektrorollstuhl, der ihre Freiheit garantiert - wenn der Fahrstuhl funktioniert.

Die Wohnung im Großen Karl hat sie vor einem Jahr per Anzeige gefunden, jetzt will sie nur noch raus aus dem Großen Karl. "Die Situation im Haus hat sich extrem verschlechtert", sagt Daniela Hartmann.

Inzwischen hat sie vom Fahrstuhlnotdienst eine geheime Notrufnummer erhalten, unter der die Techniker auch nachts zu erreichen sind. Nur sie kennt die Nummer. "Doch manchmal mag ich spätabends dort nicht mehr anrufen", sagt Daniela Hartmann. Einmal ist sie abends mit ihrem Rollstuhl vom Großen Karl zu ihrem Freund gefahren, nachdem sich im Erdgeschoss die Fahrstuhltür mal wieder nicht öffnen ließ.

358 Euro warm kostet ihre Zwei-Zimmer-Wohnung. 532 Euro warm kassiert Vermieter Gerd Thormählen für die drei Zimmer, in denen Stefanie Braukhane mit ihrem Freund und Nico lebt. Kaum ein Mieter im Großen Karl zahlt selbst für seine Wohnung. Die meisten leben von Hartz IV und Wohngeld und bescheren damit dem Vermieter ein gutes Geschäft: Die Mieten werden pünktlich überwiesen.

Mietminderungen können Jobcenter und Behörden jedoch nicht durchsetzen, weil Thormählens Vertragspartner die Mieter sind, die sich kaum mit dem Unternehmer anlegen wollen und auf einen Rechtsbeistand angewiesen wären.

"Menschlich und unternehmerisch voll daneben", sagt Kaltenkirchens Bürgermeister Hanno Krause über Thormählen, der das Haus verkommen lasse. Krause hatte selbst vor wenigen Monaten bei einer Begehung eine freiliegende Starkstromleitung entdeckt. "Die aktuelle Situation zeigt, dass Thormählen an der Sicherheit der Menschen kein Interesse hat", sagt der Verwaltungschef.

Doch sind es nur Versäumnisse des Vermieters, die den Großen Karl zum Ghetto mutieren ließen? "Einige Nachbarn und Besucher sind einfach rücksichtslos", sagt Stefanie Braukhane. Nachdem der Hausmeister herausgetretene Gitterstäbe im Treppengeländer repariert hatte, dauerte es nur wenige Stunden, bis erneut Stangen im Flur herumlagen. Wieder waren die Lücken unter den Handläufen so groß, dass Kinder ungeschützt in die Tiefe fallen konnten.

Auch die demolierten Lampen im Flur gehen auf das Konto von Randalierern. Vor wenigen Tagen löste die Polizei eine überlaute nächtliche Party in einer Wohnung auf. Danach zogen Betrunkene durchs Haus, zerschlugen die Beleuchtung und warfen Bierflaschen in die Scherben.

In der Wohnung nebenan feiert der Mieter täglich Party - meistens ab 2 Uhr nachts. Stellt Steffi Braukhane den Mann zur Rede, muss sie mit wüsten Bedrohungen rechnen.

Bei jedem Martinshorn, das zu hören ist, schrecken die Bewohner hoch

Noch mehr belasten Stefanie Braukhane jedoch die Feuer, die fast alle auf das Konto von Brandstiftern gehen. Das Schlafen fällt ihr schwer. Bei jedem Martinshorn, das zu hören ist, schreckt sie hoch. Sie schaut dann sofort nach ihrem Sohn und öffnet auf der Facebook-Seite die Meldungen der Gruppe "Großer Karl". 75 Menschen diskutieren dort regelmäßig und informieren sich.

Ohne Erfolg hat sie sich bislang nach einer neuen Wohnung umgesehen. "Sie kommen von Thormählen?" wurde sie gefragt. "Das war's dann", sagt Stefanie Braukhane.

Auch Daniela Hartmann hat bislang vergeblich nach einem neuen Zuhause gesucht. Die Feuerwehr hat ihre Wohnung in den Alarmplan aufgenommen, falls es mal wieder im Großen Karl brennt. "Die holen mich dann hier heraus", sagt die junge Frau.