Die Hälfte der Mediziner in Norderstedt geht in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand. Nur einer von 20 Studenten will nachfolgen.

Norderstedt. Die wohnortnahe medizinische Versorgung in Norderstedt ist in Gefahr. "Rund die Hälfte der etwa 40 hausärztlich arbeitenden Mediziner wird in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand gehen", sagt Dr. Thomas Flamm, Sprecher des Hausarztnetzes Nord, in dem sich 33 Hausärzte aus Norderstedt und Umgebung zusammengeschlossen haben. Dass Praxen aus Altersgründen aufgegeben werden, war bisher kein Problem. "Für jeden Kollegen, der aufhörte, gab es drei bis vier Nachfolger", sagt Flamm, der als Allgemeinmediziner in Glashütte arbeitet. Doch nun gebe es kaum noch Interessenten. Eine Umfrage unter Studierenden habe ergeben, dass sich nur noch einer von 20 vorstellen kann, eine Hausarztpraxis zu übernehmen.

Diese Trendwende wundert Flamm nicht. "In der Gesundheitspolitik wurden in letzter Zeit die falschen Signale gesetzt. Eine überbordende Bürokratie und der Budgetzwang, der die Betreuung der Patienten und die Verdienstmöglichkeiten deckelt, wirken abschreckend auf viele junge Kollegen", sagt der gebürtige Norderstedter, der gerade hautnah miterlebt hat, was es bedeutet, wenn eine Praxis aufgegeben wird. Sein Kollege Dr. Thomas Schwarz sei in die Schweiz abgewandert. "Nun stehen viele Patienten vor der Aufgabe, eine neue hausärztliche Versorgung zu finden. Das fällt nach langjähriger Betreuung und aufgebautem Vertrauen vielen Patienten nicht leicht", sagt Flamm.

Und selbst wenn die anderen Ärzte in der Nähe wollten, sie könnten die Patienten kaum übernehmen. Die Budgets seien so kalkuliert, dass jeder Hausarzt durchschnittlich rund 800 Patienten pro Quartal behandelt. "Für diese Fallzahl gibt's Geld, für diejenigen, die darüber hinausgehen, bleibt nur Gotteslohn", sagt der Sprecher des Arztverbundes.

Schon jetzt fehlten in Schleswig-Holstein 30 bis 50 Hausärzte. Flamm nennt einen weiteren Grund für das fehlende Interesse: die Entwicklung weg von der "sprechenden" hin zur technischen Apparatemedizin. Die psychosoziale Betreuung, die überwiegend die Hausärzte leisteten, könne man nicht messen. "Wenn jemand geröntgt wird, gibt es am Ende ein Bild mit einem Befund, als ein klar sichtbares Ergebnis der ärztlichen Arbeit", sagt Flamm. Er und seine Kollegen beschäftigten sich intensiv mit den Menschen, die zu ihnen kommen, hörten aufmerksam zu, wüssten um die familiäre Situation und erbliche Vorbelastungen. Doch diese Arbeit werde am schlechtesten bezahlt. Dabei vermeide die psychosoziale Betreuung hohe Folgekosten, indem teure Aufenthalte in Fachkliniken vermieden werden könnten.

Zwar habe der Gesetzgeber vor einigen Jahren eine Kehrtwende eingeleitet und die Hausärzte gestärkt. Sie sollen die Lotsen sein und die Patienten bei Bedarf an die Fachärzte überweisen. "Die Hausarztzentrierung gilt zwar grundsätzlich nach wie vor, aber inzwischen ist sie leider mit der Auflage verbunden, Kosten zu sparen", sagt der Allgemeinmediziner. Er und seine Kollegen müssten jedes Jahr fünf Prozent einsparen.

"Wenn es keine Nachfolger gibt, schicken finanzstarke Interessenten wie Kliniken die Männer mit den Geldkoffern vorbei, um die Zulassung zu kaufen", sagt Flamm. Die Praxis-Zulassung gelte nicht für den Standort, sondern für den gesamten Bereich, und der sei in diesem Fall ganz Schleswig-Holstein. In anderen Orten habe sich gezeigt, dass Zulassungen zusammengeführt werden, um Medizinische Versorgungszentren mit mehreren Fachärzten unter einem Dach einzurichten. Das sei zwar grundsätzlich nicht zu kritisieren, bedeute aber auf Dauer das Ende der wohnortnahen Versorgung. Gerade für ältere und oft nicht mehr so mobile Menschen stellten weite Wege zum Arzt ein erhebliches Problem dar.

Auf der anderen Seite seien inzwischen 70 Prozent der ausgebildeten Ärzte Frauen. "Sie würden gern arbeiten, aber nicht in Vollzeit mit 70 Stunden pro Woche", sagt Flamm. Doch ein Teilzeitjob vertrage sich nicht mit der Selbstständigkeit. Daher denken der Allgemeinmediziner und seine Kollegen darüber nach, Ärztinnen mit eigenem Budget anzustellen. "Und wir warten darauf, dass der Gesetzgeber Medizinische Versorgungszentren mit Ärzten gleicher Fachrichtung zulässt. Dann könnten sich Kollegen in Norderstedt zusammentun und zumindest die Versorgung im Stadtteil sichern", sagt Flamm.

Er begrüßt, dass die Stadt die Hausärzte unterstützt. "Wir stehen in engem Kontakt zum Oberbürgermeister, der eine engmaschige medizinische Versorgung als wesentlichen Faktor für Lebensqualität ansieht", sagt der Glashütter Arzt. So fordere der Verwaltungschef von den Stadtplanern, bei Neubaugebieten auch immer Arztpraxen mit im Blick zu haben. Möglicherweise müsse die Stadt langfristig auch Räume zu günstigen Mieten zur Verfügung stellen, um jungen Ärzten eine Selbstständigkeit in Norderstedt schmackhaft zu machen.