Niedersächsischer Landtag wählt mit Ein-Stimmen-Mehrheit von Rot-Grün Stephan Weil zum Ministerpräsidenten und Nachfolger von David McAllister

Hannover. Als alles endlich vorbei war, die Wahl gelaufen, die knappe Mehrheit unter Dach und Fach, die Blumen überreicht, die Gratulationscours im Plenum der Abgeordneten überstanden war, da fielen sich die beiden dann endlich in die Arme. Stephan Weil herzte und küsste seine Frau Rosemarie Kerkow-Weil auf dem Flur des Landtags so herzlich, so erleichtert, so froh, dass es für die Umstehenden endgültig keinen Zweifel mehr gab. Rot-Grün hat die Feuerprobe überstanden. Mit 69 Ja- gegen 68 Nein-Stimmen hat Niedersachsens neues Regierungsbündnis Stephan Weil, den bisherigen Oberbürgermeister von Hannover; zum neuen Ministerpräsidenten des Landes gewählt.

"Es tut ganz gut, dass es jetzt vorbei ist", sagte Weil wenig später in die Mikrofone. Nach langem Anlauf, einer monatelangen Wahlkampf-Tour quer durchs Land, einer atemberaubend spannenden Wahlnacht, Koalitionsverhandlungen in Rekordtempo und einer Landtagsabstimmung, die exakt die neuen, knappen Kräfteverhältnisse im Land widerspiegelte, hatte Dauerläufer Weil sein Ziel erreicht: Niedersachsens Staatskanzlei, die ihm Vorgänger David McAllister (CDU) noch am Nachmittag offiziell übergab. "Ich komme in friedlicher Absicht", begrüßte der neue Regierungschef den alten und vollendete so einen trotz des engen Wahlergebnisses vorbildlich-demokratischen Machtwechsel in Niedersachsen.

Damit hatten sich auch die wenigen Spekulationen erübrigt, dass es in Hannover ähnlich wie 2005 in Kiel ("Heide-Mord") einen Abweichler geben könnte. Stattdessen "standen" beide Fraktionen und halfen dem 54-Jährigen souverän ins neue Amt. Zu einem zweiten Wahlgang, so Weil später, wäre er auch nicht angetreten.

CDU und FDP hatten im Wissen um die absehbare Geschlossenheit der Regierungsfraktionen erst gar keinen Gegenkandidaten aufgestellt. McAllister, noch immer ein bisschen angeschlagen von seiner knappen Niederlage, hatte sich in die zweite Reihe seiner Fraktion zurückgezogen. Wie lange er es dort aushält, wird wohl auch von der Bundestagswahl im Herbst abhängen. Bei einem Wahlerfolg der Union gilt "Merkels Mac" als klarer Anwärter auf einen Kabinettsposten.

Auch Stephan Weils Zukunft hängt in nicht unerheblichem Maße von der bevorstehenden Bundestagswahl ab. Seine Wahlversprechen, auch viele zentrale Verabredungen des Koalitionsvertrags, stehen unter einem Finanzierungsvorbehalt. Da Weil sich für die Einhaltung der Schuldenbremse ausgesprochen hat, bedarf es deutlicher Steuererhöhungen, um die geplanten Investitionen im Bildungsbereich auch umsetzen zu können. Mehr Kita-Plätze, mehr Ganztagsschulen, mehr Gesamtschulen - noch immer das Lieblingsthema der Sozialdemokraten, bessere Qualität des Unterrichts, individuelle Förderung statt "Sitzenbleiben", vor allem die Inklusion, also der gemeinsame Unterricht für Schüler mit und ohne Handicaps, das alles setzt erhebliche Mehreinnahmen voraus.

Stephan Weil, das machte er schon am Nachmittag in seiner Regierungserklärung deutlich, will diese Mehreinnahmen zum einen durch eine "Aufgabenkritik" generieren, der er im Laufe des Jahres alle Landesbehörden unterziehen will. Zum anderen, zum absehbar größeren Teil, setzt er auf Mehreinnahmen, Steuererhöhungen also, sowie eine Umwidmung jener Mittel, die demnächst in das Betreuungsgeld fließen soll. Für dessen sofortige Wiederabschaffung will sich Niedersachsen künftig im Bund ebenso starkmachen wie für den Ausschluss Gorlebens als Standort eines Atommüll-Endlagers.

Sein Land, so Stephan Weil mit Blick auf dieses niedersächsische Dauerthema, habe zwar nicht das Recht, sich aus der Debatte um einen Neuanfang in der Endlagersuche zurückzuziehen. Es habe aber sehr wohl das Recht, darauf zu bestehen, "dass die geologische Eignung eines Standorts unstrittig" sein müsse. Dies treffe auf Gorleben nicht zu. Und deshalb sei Gorleben "als Standort für ein Endlager ungeeignet".

Nicht nur der absehbar ewige Streit um die Überreste der Atomenergie wird dafür sorgen, dass Weils neues Amt nicht zwangsläufig vergnügungssteuerpflichtig wird. Auch die von Rot-Grün angekündigte "sanfte Agrarwende" und der Versuch, von der demografischen Entwicklung gebeutelte Regionen Niedersachsens zukunftsfähig zu machen, sind keine Selbstläufer. Bauernverbände und Wirtschaftslobby haben in den vergangenen Tagen ebenfalls deutlich gemacht, dass sie von der neuen Landesregierung zunächst einmal Entgegenkommen erwarten.

Dazu kommt ein kleines, aber ärgerliches privates Problem. Als Ministerpräsident ist Weil künftig auch oberster Dienstherr jener Frau, die er auf dem Landtagsflur so herzlich in den Arm genommen hat. Und die er möglicherweise aus ihrem bisherigen Amt entlassen muss. Rosemarie Kerkow-Weil, Niedersachsens neue First Lady, ist in ihrem Beruf Präsidentin der Hochschule Hannover und als solche gerade hoch umstritten.

Der Senat der Hochschule hat die neue First Lady gerade abgewählt. Sie ist derzeit nur noch im Amt, weil ein zweites Gremium, der Hochschulrat, der Abwahl die Zustimmung verweigert hat. Die Chancen, dass man sich noch einigt, schätzt Kerkow-Weil selbst als "minimal" ein.

Ihr wird von den Mitgliedern des Senats rüder Führungsstil vorgeworfen. Es geht aber mindestens zum Teil auch ums Geld. Die Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel ist zwischen den Professoren und der Hochschulpräsidentin strittig. Sie selbst klagte im "Focus": "Ich werde angegriffen, weil ich eine Frau bin."

Die 58-Jährige ist seit 1987 mit dem neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten verheiratet. Glück im Unglück: Eine mögliche Entlassungsurkunde würde nicht der Ministerpräsident, sondern die designierte Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic (Grüne) ausfertigen. Für Kerkow-Weils Rolle als First Lady würde ein solch bitterer Abgang keine Auswirkungen haben: Beim Umgang mit der Öffentlichkeit möchten sich die Weils an einem sehr prominenten Beispiel orientieren. Aus seiner Sicht, befand Weil schon vor seiner Wahl, interpretiere "Herr Sauer (Ehemann von Angela Merkel) den ,First Husband' sehr modern. Das wird bei uns vermutlich ähnlich ablaufen. Bei uns geht jeder seinen eigenen, sehr selbstbewussten Weg."