Gericht verbot Kind, Weihnachten mit der Familie zu feiern. Am Freitag wieder Demo in Winsen zur Beendigung des Justizdramas.

Hamburg. Der Beschluss des Amtsgerichts Tostedt erreicht Anna und Peter Schneider vier Tage vor Heiligabend. Ihr Eilantrag, dass ihr Pflegekind Dennis die drei Weihnachtstage bei ihnen verbringen darf, "wird zurückgewiesen". Begründung: "Aufgrund vorläufiger Einschätzung dient ein solcher Umgang nicht dem Kindeswohl."

Auf den Tag genau vor sechs Jahren, Weihnachten 2006, hatten Anna und Peter Schneider den vier Monate alten Dennis (alle Namen geändert) aus dem Kinderschutzhaus in Hamburg zu sich genommen. Seitdem haben sie fünfmal zusammen Weihnachten gefeiert. Sind in die Kirche gegangen, haben zusammen Lieder gesungen und dann die Geschenke unterm Tannenbaum ausgepackt. Nun mussten sie die Festtage erstmals getrennt voneinander verbringen. Der Amtsvormund hielt es für besser, dass Dennis Weihnachten im Heim verbringt.

Dabei hatten sich alle drei nichts Schöneres vorstellen können. "Es entspricht eindeutig dem Wunsch von Dennis, Weihnachten im Kreis der Pflegeeltern, die für ihn die Hauptbezugspersonen sind, zu verbringen", heißt es weiter in dem Beschluss. So hatte es der Sechsjährige nämlich bei der Anhörung vor Gericht wenige Tage zuvor formuliert. Für den Richter aber galt es abzuwägen, ob der "verständliche Wunsch" des Kindes für diese "als besonders empfundenen Weihnachtstage" den kleinen Jungen nicht wieder in einen Loyalitätskonflikt führt, in dem er sich "zwischen den Pflegeeltern und seiner Herkunftsfamilie befindet". Eine unglaublich schwierige Entscheidung.

Rückblick: Als das Abendblatt vor fünf Monaten erstmals über das "Justizdrama um das Hamburger Pflegekind Dennis" berichtete, löste der Fall ein gewaltiges Echo aus. Die Leser reagierten entsetzt und wütend auf die Herausnahme des damals Fünfjährigen aus seiner Pflegefamilie durch das Jugendamt in Winsen/Luhe und die Unterbringung von Dennis in einem Heim. Sie waren fassungslos über das Handeln eines Richters am Amtsgericht Winsen, der die Pflegeeltern mit dem Verhängen von Strafgeldern gnadenlos in die Enge getrieben hat.

Politiker wie Niedersachsens Justizminister Bernd Busemann (CDU) oder seine Kollegin Aygül Özkan (CDU) aus dem Sozialministerium setzten sich für eine Lösung zum Wohl des Kindes ein. In Winsen demonstrierten die Menschen vor dem Jugendamt für die Rückkehr von Dennis zu seinen Pflegeeltern. Doch alle Appelle verhallten. Bis heute lebt Dennis in einem Heim. Das Justizdrama aber ist noch nicht zu Ende.

Die drogenkranke leibliche Mutter hatte Dennis gleich nach der Geburt in einem Hamburger Krankenhaus zurückgelassen. Sein leiblicher Vater ist ebenfalls drogenkrank und war jahrelang inhaftiert. Von Anfang an waren die Besuchskontakte mit der Herkunftsfamilie - dem leiblichen Vater und der Großmutter in Hamburg - strittig. Es folgten jahrelange juristische Auseinandersetzungen um die sogenannten Umgänge, auf die der Junge regelmäßig mit massiven Essstörungen und Erbrechen reagierte. Im Februar 2011 hatte Professor Ludwig Spohr von der Berliner Charite bei Dennis ein fetales Alkoholsyndrom durch mütterlichen Drogen- und Alkoholkonsum während der Schwangerschaft diagnostiziert. Als der Amtsrichter unbegleitete Besuche beim Vater und der Oma in Hamburg anordnete, verweigerten die Pflegeeltern diese schließlich mit Rücksicht auf die Gesundheit des Kindes. Der Richter verhängte daraufhin monatlich Ordnungsgelder bis zu 750 Euro pro Person gegen das Ehepaar Schneider, bis diese finanziell ruiniert waren.

Als der Richter auch dem Amtsvormund vom Jugendamt Winsen ein Ordnungsgeld androhte, falls dieser seine Beschlüsse nicht umsetze, verloren die Schneiders auch die Unterstützung der staatlichen Stelle. Der Konflikt verschärfte sich. Es begann ein Machtkampf, ausgetragen auf dem Rücken eines kleinen Kindes. Im Sommer 2011 stellte das Jugendamt für Dennis einen Herausnahmeantrag aus der Pflegefamilie. Acht Monate später waren die Schneiders finanziell und mit ihren Kräften am Ende. Sie baten das Jugendamt im Mai 2012, Dennis abzuholen, um ihm weitere seelische Qualen zu ersparen. Eine Entscheidung, die sie wenig später bitter bereuten.

Dennis kam in ein Heim. Und seit nunmehr sieben Monaten kämpfen die Schneiders darum, dass er wieder zu ihnen nach Hause kommen darf. Sie haben einen Rückführungsantrag gestellt, über den das Amtsgericht Winsen entscheiden muss. Sie dürfen Dennis einmal in der Woche besuchen. "Und Dennis sagt uns jedes Mal, dass er zu uns nach Hause zurück möchte", sagt Anna Schneider. Und was sagen sie ihm dann? "Wir sagen Dennis jedes Mal, dass wir ihn sehr lieb haben, dass wir mehr Zeit mit ihm verbringen wollen, aber dass ein Richter darüber entscheidet, ob er zu uns nach Hause zurückdarf."

Längst hat die Justiz die Regie über das kleine Kinderleben übernommen. Ein Sachverständigengutachten sollte klären, "ob die Herausnahme von Dennis aus der Pflegefamilie oder der Verbleib bei ihr dem Wohl des Kindes am besten entspricht". Die Gutachterin kommt nach 143 Seiten zu dem Ergebnis: "Trotz des Bindungsabbruchs, der für Dennis mit der Trennung von seinen Pflegeeltern verbunden ist, ist die Trennung für Dennis' langfristige Entwicklung zu befürworten, eine Rückkehr würde eine Kindeswohlgefährdung bedeuten." Dabei ist die Gutachterin voll des Lobes für die Erziehungsarbeit der Schneiders. Die Pflegeeltern, schreibt sie, seien die "primären Bindungspersonen" von Dennis, sie hätten ihm orientierende Werte vermittelt und ihn optimal gefördert durch differenzierte Ansprache, liebevolle Zuwendung und altersgemäße Freizeitaktivitäten. Allerdings seien sie überbesorgt, überfordert und litten unter Verlustängsten. Vater und Großmutter seien "lieb gewordene Verwandte, zu denen er eine emotionale Beziehung aufgebaut hat, die aber keinen Bindungscharakter beinhaltet". Ihr Fazit: "Die Belastungen durch diesen Loyalitätskonflikt haben für Dennis eine kindeswohlgefährdende Qualität erreicht." Da aber auch weder der leibliche Vater noch die Großmutter "kurz- oder mittelfristig für die Inobhutnahme von Dennis in Betracht kommen", soll er nun im Heim bleiben.

Seit mehr als 20 Jahren ist der Diplom-Sozialpädagoge Christoph Malter im Pflegekinderwesen tätig. "Die Empfehlung der Gutachterin ist eine Diskriminierung eines sechsjährigen Kindes mit Behinderung, das genauso wie Kinder ohne Behinderung ein grundgesetzlich verankertes Anrecht auf ein Aufwachsen in einer Familie, seiner Pflegefamilie, hat", sagt er. Selbst wenn die Gutachterin, was Malter für fragwürdig hält, den Pflegeeltern eine teilweise Erziehungsunfähigkeit attestiere, hätte das unter den gesetzlichen Maßgaben zum Tatbestand der Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB "niemals zu einer Trennung von Eltern und Kind geführt". Malter kritisiert weiter: "Dass die Pflegeeltern Dennis behüten wollen und auf Gefahren hingewiesen haben, soll ihnen jetzt zum zweiten Mal zum Verhängnis werden: Erst wurden sie mit unangemessenen Zwangsgeldern belegt, nun wird ihnen Unfähigkeit und Überbehütung vorgehalten." Dass Dennis gerade kein überbehütetes Kind ist, hätte die Gutachterin als Befund werten müssen, weil sie es ja wusste: "Er ging frühzeitig in Krippe und Kindergarten, er hat Freunde, wurde zu Geburtstagen eingeladen, ging in den Sportverein und in die Kinderstunde der Gemeinde."

Die Gutachterin hat Dennis auch gefragt, was sein Wunsch sei, wenn die Erwachsenen "endlich eine Meinung haben", also ihren Streit beenden sollten. "Dann möchte er zu Mama und Papa. Also zu seinen Pflegeeltern, die seine Hauptbezugspersonen sind", steht im Gutachten. Dass die Sachverständige trotzdem zu einem anderen Ergebnis gelangt, hält Malter für einen Skandal.

Anna und Peter Schneider werden weiter um Dennis kämpfen, auch wenn jede weitere gerichtliche Instanz sie finanziell über ihre Grenzen führen wird. "Wir werden ihn nicht aufgeben."

Die Menschen haben Dennis nicht vergessen. Morgen werden sie wieder demonstrieren. Und um 14 Uhr vor dem Jugendamt in Winsen Luftballons in den Himmel steigen lassen. "Ein neues Jahr beginnt oft mit guten Vorsätzen", sagt Demo-Organisator Götz Gerke, der Vorsitzende der Pflegeelterninitiative Pfeil Harburg. "Wir möchten an die Verantwortlichen appellieren, das Jahr 2013 mit dem Vorsatz zu beginnen, eine Lösung für Dennis zu finden, die eine Rückkehr in seine Pflegefamilie ermöglicht und andauernde juristische Auseinandersetzungen beendet."