Im “Merritt Island National Wildlife Refuge“ teilen sich Reptilien, Wildkatzen, Seeadler und Zugvögel das Gebiet mit Raketen und Raumschiffen der Nasa. Und manchmal überquert auch eine Riesenechse die Landebahn der Spaceshuttles.

Wer hier steht, wenn ein Spaceshuttle startet, wird seine Geschichte niemandem erzählen." Der Italiener Bernardo Patti von der europäischen Weltraumbehörde ESA macht keinen Witz. 200 Meter vor der Startrampe 39A im Kennedy Space Center in Cape Canaveral (Florida) haben Mann und Maus beim Abheben einer Weltraumfähre nichts zu suchen. Ein wahres Inferno bricht aus, wenn Triebwerke und Raketen zünden und den Shuttle in den Himmel katapultieren. Ein riesiger Feuerball, Donnern und gigantische Qualmwolken begleiten den Start.

Das Gras, auf dem Patti steht und die technischen Einzelheiten des Raumfahrtbetriebs erläutert, ist nach einem derartigen Feuerwerk verkohlt. Heute ist es friedlich und still um die Startrampe. Möwen kreischen, andere Vögel zwitschern. Hinter dem haushohen doppelten Drahtzaun zieht sich ein Naturschutzgebiet bis zum Horizont. Mangroven und Palmen, so weit das Auge reicht.

34 000 Hektar Sumpfland umgeben den Weltraumbahnhof auf Merritt Island, der nach dem US-Präsidenten John F. Kennedy benannt wurde. 5000 Alligatoren teilen sich das "Merritt Island National Wildlife Refuge" mit Raketen und Raumschiffen der Nasa. Die Alligatoren sonnen sich am Ufer der Kanäle oder überqueren mal eben die 91 Meter breite Landebahn der Spaceshuttle - mit fünf Kilometern eine der längsten Flugpisten der Welt. Schildkröten und Schlangen, Gürteltiere und Wildkatzen bevölkern die Wildnis. Hunderttausende Zugvögel kommen ins Space-Center zum Überwintern. Kraniche, Seeadler und Geier bauen ihre Nester in den Bäumen des Naturschutzgebietes und auf den Antennenmasten der nahen Raumfahrtgebäude. Möwenschwärme flattern erschreckt auf, wenn mal wieder eine Rakete hochjagt, aber die meiste Zeit des Jahres herrscht hier himmlische Ruhe. Im Brackwasser des Banana-River grasen Seekühe, und im Gegenlicht goldener Sonnenuntergänge sind im Indian River die Silhouetten spielender Delfine auszumachen. 500 verschiedene Arten von Vögeln, Säugetieren, Amphibien und Reptilien leben in enger Nachbarschaft mit den modernsten technischen Errungenschaften der Menschheit.

Der Shuttle, der auf der Rampe 39A auf den Start wartet, ist von außen kaum wahrzunehmen. Die Raumfähre ist zwischen Außentank, Boosterraketen und Ladevorrichtungen eingekeilt. Aber Bernardo Patti versichert, dass in dem Paket ein Shuttle steckt. Ein winziger Mensch ist auf einer Eisenbrücke auf dem Gerüst zu erkennen. Nahebei stehen runde, weiße Tanks mit flüssigem Wasser- und Sauerstoff, der kurz vor dem Start in den orangen Außentank der Raumfähre kommt. "Und da drüben aus dem Wasserturm", sagt Patti und zeigt auf einen Kessel auf hohen Stelzen, "schießen beim Start riesige Fontänen zur Lärmdämpfung unter die Triebwerke - daher kommen die gigantischen Dampfwolken beim Abheben."

Drahtseile sind diagonal an die Startvorrichtung gespannt - Sicherheitskabel, an denen sich die Astronauten im Notfall mit Körben abseilen können.

Von der Shuttle-Flotte sind nach den "Challenger"- und "Columbia"-Unglücken 1986 und 2003 nur noch "Discovery", "Atlantis" und "Endeavour" übrig. Diese pinguinartigen, schwarzweißen Kolosse mit den deltaförmigen Flügeln haben zum Teil mehr als 20 Jahre auf dem Buckel. Die Raumfähren sind wiederverwendbar und für mindestens 100 Weltraumeinsätze konzipiert. Das werden diese drei Schiffe allerdings nicht mehr erfüllen, denn 2010 - wenn die ISS fertig ist - soll die Flotte stillgelegt werden. Die Shuttle kommen ins Museum. Das Ziel der Nasa: Mit neuen Raumschiffen geht es zum Mond - und von dort aus zum Mars.

Eine der Startrampen, Launchpad 39B, soll in einem Jahr bereits für diese Zwecke umgerüstet werden. In den nächsten drei Jahren jedoch fliegen die drei Transporter planmäßig weiter ins All. Am 6. Dezember ist der deutsche Astronaut Hans Schlegel an Bord der "Atlantis", um das europäische Weltraumlabor "Columbus" zur ISS zu fliegen.

Die Raumfähre "Atlantis" wird derzeit für den Start am Nikolaustag fitgemacht. Sie steht - mehrere Stockwerke hoch eingerüstet - in der Orbiter Processing Facility (OPF). Das ist eine gigantische Werkstatt, in der verschiedene Arbeitsplattformen auf Schienen um den Orbiter gefahren werden und sich um ihn schließen wie ein Gehäuse. Von der "Atlantis" sind nur die schwarze Nase und der gekachelte, langgestreckte Bauch zu sehen. Das Fahrwerk guckt aus dem Wirrwarr der Gerüste und Kabel hervor, am Heck sind die drei Triebwerke auszumachen.

Nasa-Sprecher Manny Virata kennt sich in diesen Hallen aus. Streng lenkt er Besuchergruppen auf vorgezeichneten Wegen unter der Raumfähre hindurch. "Nichts anfassen", nicht trödeln oder streunen." Vor uns liegt das Innerste der Weltraumwerkstatt. Techniker, Ingenieure und Arbeiter operieren die "Atlantis" wie auf einer Intensivstation "am offenen Herzen".

Die Landeklappen bewegen sich wie von Geisterhand. "Sie testen die Hydraulik", erklärt Manny. "Und sie arbeiten am Fahrwerk und Hitzeschild." Auf vielen der 25 000 Isolierkacheln kleben bunte Sticker. "Das bedeutet, dass diese repariert oder ausgewechselt werden", sagt er bemüht, seine Besucher beieinander zu halten. Den Kopf nach oben gereckt bietet sich dem Betrachter ein unvergessliches Bild: ein Spaceshuttle zum Greifen nah. Die 56 Meter lange, 24 Meter breite und mehr als zwei Millionen Kilo schwere "Atlantis" ist auf einmal ein Stück Hardware.

"Mindestens zwei Monate bleiben die Shuttle in dieser Werkstatt", sagt Manny. Jedes Detail wird gecheckt. "Raumfahrt erlaubt keine Irrtümer", betont der Nasa-Sprecher.

Das Vehicle Assembly Building (VAB) erstreckt sich über mehr als drei Hektar und hat ein Volumen von fast vier Millionen Kubikmetern. "Das runde blaue Nasa-Emblem, das neben der amerikanischen Flagge auf die Wand gepinselt ist, nennen wir ,Fleischklops'", lacht Manny. Seit den Hurricanes von 2005 wird an der ramponierten Außenverkleidung gearbeitet. Das drittgrößte Gebäude der USA ist 160 Meter hoch, und die Nackenstarre wird chronisch. Geier segeln über das himmelhohe Dach dieser sagenhafte Halle.

Der 47 Meter lange Treibstofftank mit der Schaumstoffisolierung wird in Louisiana gebaut und mit dem Schiff direkt ins Kennedy Space Center gebracht. Er ist das einzige Teil der Shuttle-Combo, das nicht wiederverwendet wird. Die 45 Meter langen weißen Boosterraketen werden nach dem Start mit speziellen Schiffen aus dem Atlantik gefischt, gereinigt, wieder gefüllt und bis zu 20-mal wiederverwendet . . .

Vor den Hangars und Hallen des Kennedy Space Centers blendet derweil weiter das Licht. Die Sonne über Florida knallt unerbittlich - es sind 30 Grad im Schatten. Die Alligatoren bleiben unsichtbar, aber die Geier und Möwen kreisen immer noch über den Dächern der gigantischen Gebäude. Die 14 000 Mitarbeiter dieser Weltraumwerkstatt an der Atlantikküste hämmern, schrauben und klopfen weiter an den größten aller Vögel. Vögel, die der Menschheit den Traum vom Fliegen erfüllt haben: in die Weiten des Alls.