Altlast: 1600 Boehringer-Arbeiter aus dem 1984 stillgelegten Moorfleeter Chemiewerk teilen das Schicksal des Ukrainers Viktor Juschtschenko. Sie sind mit Dioxin belastet und immer noch krank.

Das neueste Dioxin-Opfer steht derzeit in den Schlagzeilen: der ukrainische Oppositionsführer Viktor Juschtschenko, dem das Supergift vermutlich heimlich ins Essen gemischt wurde. In Hamburg leben fast tausend Menschen, die ebenfalls mit Dioxin vergiftet worden sind: an ihrem Arbeitsplatz. Es sind die ehemaligen Arbeiter des Pestizid-Werks Boehringer in Moorfleet. Für sie gibt es noch eine Beratungsstelle - ein Besuch beim Mediziner Professor Alfred Manz (83).

Freitag vormittag, Institut für Arbeitsmedizin der Stadt Hamburg an der Hamburger Straße: In einem kleinen Büro steht das Telefon kaum still. Fast pausenlos gibt der pensionierte Pathologe und Arbeitsmediziner Alfred Manz Ratschläge für Anerkennungsverfahren von Berufskrankheiten, spricht mit Ärzten, Anwälten und Betroffenen über die gesundheitlichen Folgen des Supergifts Dioxin, mit dem rund 1600 Arbeiter des ehemaligen Boehringer-Werks in Hamburg-Moorfleet verseucht wurden.

Manz, dem 1987 die Leitung der vom Senat eingerichteten Beratungsstelle für Boehringer-Geschädigte übertragen wurde, steht ihr heute noch als Berater zur Verfügung. Die Einrichtung ist inzwischen im Institut für Arbeitsmedizin unter Leitung von Prof. Xaver Baur integriert, die Firma Boehringer unterstützt weiterhin die Beratungen. Manz arbeitet allein und ehrenamtlich. "Bis 1999 war die Beratungsstelle noch mit fünf Leuten besetzt", erzählt er. Und macht trotz seines hohen Alters weiter - "ich kann die Leute mit ihren Problemen und die Kollegen im Institut doch nicht allein lassen."

Die langen Schatten der Pestizid-Produktion im Moorfleeter Werk lassen die Betroffenen nicht zur Ruhe kommen. Viele leiden an Krebs. Aber ebenso gravierend sind Veränderungen der Psyche. Depressionen sind sehr häufig, Selbstmord als Todesursache spielt eine große Rolle. Weitere Symptome sind Schwindel, Schlaf- und Gedächtnisstörungen, leichte Erregbarkeit.

Nach einer letzten Statistik aus dem Jahr 1994 waren 35 Prozent der 1589 Menschen, die zwischen 1952 und der Werksschließung im Jahr 1984 mindestens ein Vierteljahr lang in dem Werk beschäftigt waren, bereits verstorben. Dabei lag die Rate der Krebstoten deutlich über der Normalbevölkerung, das Alter der Toten deutlich niedriger. "Es ist bekannt, daß Dioxin ein Krebspromotor ist, also die Bildung von Krebs fördert", sagt Manz. Die Entwicklungen seit 1994 sind nicht mehr systematisch erfaßt worden. Aus vielen Gesprächen weiß Manz: "Die Lage hat sich verschlimmert, so sind weitere Krebsfälle hinzugekommen."

Bislang werde allgemein das Hauptaugenmerk auf das sogenannte Seveso-Dioxin (2,3,7,8-TCDD) gerichtet, da sich diese Verbindung in Tierversuchen als besonders giftig erwies. "Unsere Berechnungen zeigen jedoch, daß auch andere Verbindungen aus dieser Stoffgruppe schon in geringer Konzentration die Rate von Krebserkrankungen statistisch fast verdoppeln", betont der pensionierte Arzt im Unruhestand. Er fordert deshalb, auch andere Vertreter der "Dioxin-Familie" genauer zu untersuchen. Die vorliegenden Boehringer-Daten würden dafür eine unwiederbringliche Gelegenheit bieten.

Besonders gefährdet sind Arbeiter, die sich, wie damals bei Boehringer, in dioxinverseuchter Luft aufhalten. Im Gegensatz zur Normalbevölkerung, die Dioxin in weit geringerem Maße fast nur mit der Nahrung zu sich nimmt, atmeten die Boehringer-Arbeiter das Gift ein oder nahmen es über die Haut zu sich. Diese Wege sind gefährlicher, da über sie das Dioxin vom Körper stärker aufgenommen wird als über den Darm.

Auch heute noch gibt es Jobs mit Dioxinrisiko. Manche Schweißer in Recyclingbetrieben seien gefährdet, so Manz, ebenso Arbeiter in der Metallverarbeitung. Zwar gibt es einen offiziellen Luftgrenzwert. Aber Dioxin ist in der Luft nur schwer zu messen, deshalb liegen kaum Daten vor.

Statt dessen ermittelt man die aufgenommenen Mengen in Blutproben oder im Fettgewebe. Hierfür gebe es jedoch keine Grenzwerte, so der ehemalige Betriebsarzt der Hamburger Gas- und Wasserwerke. "Wir wissen nicht, wo die Dioxin-Grenzwerte liegen müssen, um endlich im Alltag Entwarnung geben zu können", sagt er und denkt dabei auch an immer wieder auftauchende Dioxin-Funde in Futter- oder Lebensmitteln.

Die ehemaligen Boehringer-Arbeiter wurden zusätzlich mit dem Schadstoff HCH (Hexachlorcyclohexan) verseucht. Der bekannteste Vertreter dieser Stoffgruppe ist Lindan. Dieses Gift wird auch heute noch zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt und wurde im Moorfleeter Werk produziert. HCH löste bei den Boehringer-Arbeitern Stoffwechselstörungen aus. Viele haben erhöhte Fettwerte im Blut - und damit ein erhöhtes Risiko für Herzkrankheiten.

Alfred Manz ist "Herr der Krankendaten" von den Boehringer-Arbeitern. Sie dürfen nur mit dem Einverständnis der Betroffenen an Dritte weitergegeben werden. Die Akten füllen fünf Panzerschränke im Nebenraum. Im Beratungszimmer befindet sich ein großes Dia-Archiv mit Aufnahmen von Arbeitssituationen, Krankheitssymptomen, Vorträgen. Manz: "Wir haben hier einen weltweit einzigartigen Fundus an Daten. Sie müßten wissenschaftlich aufgearbeitet werden, aber dafür fehlt das Geld. Ich selbst kann fast nur die Beratung leisten."

Damit hat der rührige Arzt ohnehin genug zu tun. Derzeit stehen noch mehrere Verfahren an, in denen Boehringer-Arbeiter ihre Leiden als Berufskrankheiten anerkennen lassen wollen - Manz schätzt die Anzahl auf 40 bis 50. "Rund 250 Fälle sind bislang anerkannt, darunter auch Fettstoffwechselstörungen.

Bei einigen Betroffenen fechtet die jeweilige Berufsgenossenschaft die in der ersten Instanz erfolgte Anerkennung an. Sollten sie sich durchsetzen, besteht die Gefahr, daß die bereits ausgezahlte Rente zurückgezahlt werden muß." Das menschliche Leid der ehemaligen Boehringer-Crew wird offensichtlich nicht nur durch Giftstoffe ausgelöst.