Dieter Niemeyer und seine Frau hatten zwei kleine Kinder, als 1990 die Diagnose ihr Leben veränderte. Sie schwiegen und kämpften. Ein Rückblick.

Die Schreckensbotschaft kam Weihnachten 1990. "Meine Frau ging zur Blutspende. Dabei stellte sich heraus, dass sie HIV-positiv war. Bei ihrer Arbeit als Krankenschwester hatte sie sich neun Monate vorher mit dem Virus infiziert", erinnert sich Dieter Niemeyer (61) nachdenklich. Der Betriebswirt ließ sich damals sofort untersuchen. Das Ergebnis: Er hatte sich bei seiner Frau angesteckt. Das Ehepaar war verzweifelt: Was würde nun werden, was würde aus ihrer Tochter, was aus ihrem Sohn, die damals gerade drei und anderthalb Jahre alt waren? Dazu die Unsicherheit: Dürfen die Kinder mit uns aus einem Glas trinken? Dürfen wir sie küssen oder mit ihnen schwimmen gehen? "Wir wussten nicht mehr ein noch aus, ich hatte Angst, auf die Straße zu gehen, weil ich dachte, man sieht mir die Infektion an", sagt Niemeyer.

Das Paar war auf sich allein gestellt. Als Niemeyer seiner Mutter von der Infektion erzählt, sagt sie nur: "Oh Gott, dass mir das auch noch passiert." Als er seine Schwester bittet, sich um die Kinder zu kümmern, wenn er und seine Frau das nicht mehr könnten, erwidert sie, dass sie das nur dann macht, wenn die Kinder gleich zu ihr kommen.

"Damals habe ich vor meiner Frau gekniet und gesagt: Wir stehen das durch. Wenn unsere Schmerzen zu stark oder unsere Kinder auch krank werden, scheiden wir alle gemeinsam aus dem Leben."

Er und seine Frau nehmen den Kampf auf. Beide erhalten das Medikament Retrovir, das einzige Mittel, das damals zur Verfügung steht. Dieter Niemeyer gibt den Beruf auf und kümmert sich als Hausmann um die Kinder, seine Frau arbeitet weiter als Krankenschwester, aber nicht mehr mit Patienten, sondern in der Verwaltung. Und sie beschließen, niemandem von ihrer Infektion zu erzählen - um ihre Kinder zu schützen vor den Vorurteilen, vor der Ausgrenzung, der Isolation. Als sie noch in Bremen wohnen, unternehmen sie einen Versuch, offen mit der Krankheit umzugehen. Sie informieren die Mutter der Freundin ihrer Tochter über ihre Infektion. "Sie verlangte eine schriftliche Garantie, dass ihre Tochter sich nicht anstecken kann, wenn sie mit unserer Tochter spielt", sagt Niemeyer. Diese Erfahrung bestätigt sie darin, niemandem etwas zu erzählen, erst recht nicht, als sie in eine norddeutsche Kleinstadt umziehen.

"Das Leben in einer Kleinstadt mit dieser Krankheit, von der niemand wissen darf, ist das reine Grauen", sagt Niemeyer. Als er 1995 an Zungenkrebs erkrankt, der operiert und bestrahlt wird, empfindet er es als Erleichterung, mit dem Nachbarn darüber reden zu können. "Hätte ich erzählt, ich bin HIV-positiv, wäre er sofort auf Abstand gegangen."

Nur ein befreundetes Ehepaar weiß von dem Schicksal der Niemeyers.

"Das Schweigen all die Jahre war eine schwere Last. Dazu kamen die Fragen der Kinder, die auch nichts wissen durften: Warum geht's dir schlecht? Warum musst du nach Hamburg fahren? Immer wieder mussten wir Ausreden erfinden."

Den Niemeyers gelingt es, ihre Kinder zu schützen, vor der Infektion und der Ausgrenzung. Erzählt haben sie ihnen von ihrer Krankheit, als sie 18 wurden. "Meine Frau hat mit unserer Tochter gesprochen, ich mit unserem Sohn. Als ich es erzählte, haben wir beide geweint, aber er wusste, dass ich über all die Jahre immer der gleiche Papa geblieben bin und dass er keine Angst haben musste, dass ich bald sterben werde."

Bis heute ist weder bei Dieter Niemeyer noch bei seiner Frau Aids ausgebrochen. Seit 1996 werden sie im Hamburger ifi-Institut mit einer Kombination aus Medikamenten behandelt. "Damit haben wir die Krankheit gut im Griff. Ich schlucke elf Tabletten am Tag, zwischenzeitlich waren es auch schon mal 26 bis 28. Die Medikamente haben Nebenwirkungen, bei mir sind es vor allem Übelkeit und Durchfall, aber das kann ich mit der Ernährung ganz gut gegensteuern. Mir ging es vor zwölf Jahren schlechter als heute."

Heute geht Niemeyer offen mit seiner Krankheit um. "Jetzt sind unsere Kinder aus den kleinbürgerlichen Verhältnissen heraus, und sie können mit unserer Infektion umgehen. Und ich habe keine Angst mehr vor den Fragen der anderen." Dieter Niemeyer empfindet es als Befreiung, keine Geheimnisse mehr haben zu müssen. Dass er jetzt so damit umgehen kann, liegt auch daran, dass er andere Menschen über seinen Sport kennengelernt hat, die ebenfalls infiziert sind. Mit dieser Gruppe "B42+" ist er im vergangenen September beim Marathon in Berlin mitgelaufen.

"Vorher habe ich ein Abkommen mit dem Virus geschlossen. Wenn du mich in Ruhe lässt, gehen wir beide dieses Jahr zusammen durch das Brandenburger Tor. Tust du das nicht, werde ich wohl sterben, aber dann stirbst du mit." Ein weiteres Mal hat Dieter Niemeyer einen Sieg über die Infektion errungen. Er läuft die Strecke von 42 Kilometern in vier Stunden und 41 Minuten.

Jetzt will er ein Buch schreiben, über die vergangenen 18 Jahre.

Und er will die Menschen aufklären über diese Infektion. Wie bitter nötig das ist, hat er im Gespräch mit einem jungen Mädchen erfahren, mit dem er darüber geredet hat, wie man sich vor der Infektion schützen kann. "Da hat sie zu mir gesagt, mir kann nichts passieren, ich nehme ja die Pille."