50 000 Kleinkinder erkrankten in China, und auch in Europa tauchen einige verseuchte Lebensmittel auf.

Erst die Katzen, dann die Kinder: Melamin in Weizengluten und Milchprodukten macht Schlagzeilen und verunsichert Verbraucher. In China erkrankten mehr als 50 000 Kleinkinder durch mit der Chemikalie versetzte Milchprodukte. Auch in Europa tauchen verseuchte Lebensmittel auf. Gestern warnten die Schweizer Behörden vor den Keks-Sorten "Milk-Cookies S&P" aus Thailand und "LemonPuff Munchee" aus Sri Lanka, die hohe Konzentrationen an Melamin enthielten. Schon zuvor hatten die Behörden auch in Hamburg verdächtige Produkte wie die Keksmarke "Koala" aus den Regalen genommen. Doch wie gelangt die gängige Industriechemikalie Melamin überhaupt in die Lebensmittel?

Melamin kommt in vielen Alltagsprodukten zum Einsatz. Über eine Million Tonnen Melamin werden weltweit jedes Jahr produziert und hauptsächlich zu einem Kunstharz verarbeitet, indem man Melamin mit der Chemikalie Formaldehyd reagieren lässt. Das entstehende Material hält Temperaturen bis zu 350 Grad stand, dient als Beschichtung von Küchenarbeitsplatten oder als Material für hitzebeständige Gebrauchsgegenstände. Auch für Klebstoffe, für Flammschutzmittel und farbige Pigmente dient Melamin als Ausgangsstoff. Die bemerkenswerteste Eigenschaft des vom Gießener Chemiker Justus Liebig erstmals 1834 synthetisierten weißen Pulvers ist jedoch sein hoher Stickstoffgehalt: Das für alle Lebewesen lebensnotwendige Element macht allein zwei Drittel der Molekülmasse aus.

Versuche, Melamin als Düngemittel oder als zusätzliche Stickstoffquelle in Tierfutter einzusetzen, schlugen allerdings fehl, weil die Tiere den Stickstoff nicht aufnehmen können. Allerdings macht der Reichtum an Stickstoff Melamin auch für Lebensmittelpanscher interessant: Die Substanz wird immer wieder illegal Tierfutter und Lebensmitteln zugesetzt, um einen höheren Eiweißgehalt und damit eine höhere Qualität vorzutäuschen.

Den Eiweißanteil im Tierfutter bestimmt man über den Stickstoffgehalt. Echtes Protein enthält nur etwa 16 Prozent Stickstoff, während Melamin zu 67 Prozent aus dem Element besteht. Man kann also mit wenig Melamin den Nährwert scheinbar deutlich erhöhen. Die Industriechemikalie kostet bei gleichem Effekt lediglich ein Fünftel des echten Proteins. Auf diese Weise kann man etwa Milch mit Wasser strecken, ohne dass gängige Prüfverfahren Alarm schlagen.

Dass der finanzielle Anreiz für solche Praktiken vorhanden ist, zeigt der Skandal in China, bei dem Zehntausende Kinder durch Melamin in Milchprodukten erkrankten. Verseuchte Nahrungsmittel können aber auch Tieren schaden. So erkrankten im Jahr 2007 in den USA Tausende Haustiere durch mit Melamin verseuchtes Weizengluten im Futter.

Dabei ist die Chemikalie für sich genommen kaum giftiger als normales Kochsalz. Viel gefährlicher wird Melamin allerdings in Kombination mit der chemisch eng verwandten Cyanursäure, wie Wissenschaftler herausfanden. Keine der beiden Chemikalien ist für sich genommen besonders giftig, gemeinsam jedoch wirken sie verhängnisvoll: Cyanursäure und Melamin bilden in der Niere Kristalle, die die feinen Gefäße des Organs verstopfen. Das kann bei Säuglingen und Kleinkindern zu Nierenversagen führen.

Das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit hat ein Labor, das auf die Untersuchung auf Melamin spezialisiert ist. Dort untersuchen Chemiker auch Hamburger Lebensmittel- und Futterproben. Um die Chemikalien aufzuspüren, nutzt das Amt eine standardisierte Methode, die ihm von der US-Lebensmittelbehörde FDA zur Verfügung gestellt wurde, erklärt der Chemiker Dr. Ayman Hashem. Neben Melamin findet diese Methode auch die chemisch verwandte Cyanursäure und zwei weitere ähnliche Chemikalien, Ammelin und Ammelid. "Dieses Jahr haben wir noch kein Melamin in Produkten gefunden", sagt Dr. Hashem allerdings. Welche Rolle diese Nebenprodukte im Vergleich zum Melamin selbst bei den Vergiftungsfällen spielen, ist offen. Vorsicht ist in jedem Fall geboten. Schon vor zwei Wochen hat die Europäische Union die Einfuhr von chinesischen Milchprodukten für Kleinkinder verboten. Zusätzlich werden alle chinesischen Produkte mit mehr als 15 Prozent Milchanteil gesondert auf Melamin kontrolliert. Außer den bereits bekannten und aus dem Verkehr gezogenen Süßigkeiten sind in Deutschland bislang keine weiteren mit Melamin belasteten Lebensmittel aufgetaucht. Insbesondere erwiesen sich alle untersuchten Babyprodukte als unbedenklich, wie auch die aktuellen Schweizer Analysen wieder bestätigten. Auch die chinesische Regierung hat jetzt Grenzwerte für Melamin in Milchprodukten festgelegt - ein Milligramm pro Kilo bei Babynahrung. Doch wenn der Grenzwert wirklich Bestand haben soll, muss er kontrolliert werden.