Martina Bertram (44) ist Ärztin und Diplompsychologin und wohnt in Hamm (Nordrhein-Westfalen). Das Thema ihrer Doktorarbeit: "Ursachen von Wartezeiten". Einen Auszug aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit gibt es im Internet (unter der Adresse: www.metrik.org):

ABENDBLATT: Frau Bertram, warum müssen wir in Arztpraxen häufig so lange warten?

MARTINA BERTRAM: Unisono heißt es immer: weil wir zu viele Patienten haben.

ABENDBLATT: Stimmt diese Begründung denn?

BERTRAM: Ja und nein, hier werden Ursache und Wirkung verwechselt. Sie können als Arzt beliebig viele Patienten behandeln: mit der richtigen Strategie und dem richtigen Praxenmanagement. Bei vielen Ärzten bricht aber das System zusammen, wenn Patienten mit akutem Anliegen kommen - was ja in Allgemeinarztpraxen nicht ungewöhnlich ist.

ABENDBLATT: Und dann?

BERTRAM: Dann wird dazwischengeschoben, nach dem Motto: "Ich habe zwar keinen Termin mehr frei, aber kommen Sie und bringen Sie Wartezeit mit." Wenn jemand das sagt, dann weiß ich: In dieser Praxis wird das nichts. Denn jeder reingenommene Patient wird zur Wartezeit für den nächsten.

ABENDBLATT: Aber diese Notfälle müssen doch behandelt werden, schließlich sind die Ärzte dazu ja verpflichtet.

BERTRAM: Stimmt, aber man kann das besser organisieren. Man könnte eine Akutsprechstunde einrichten. Dort wären dann kürzere Taktungen möglich. Oder man hängt die Notfallpatienten hinten an.

ABENDBLATT: Dann müssen aber alle auch bereit sein, Überstunden zu machen?

BERTRAM: Das machen jetzt auch schon alle und hoffen jeden Tag, dass es heute besser gehen wird.

ABENDBLATT: Was ist, wenn Patienten ihren Termin plötzlich absagen oder erst gar nicht kommen? Dann entsteht doch auch eine Lücke.

BERTRAM: Nach den Aussagen der Praxenbetreiber ist dies nicht wirklich ein Problem, Ausfälle sind selten, und man kann ja auch darauf reagieren. Vielleicht wohnt ein Notfallpatient dicht an der Praxis. Den könnte man anrufen und fragen, ob er schnell kommen will. Da ist Flexibilität gefragt und eine gute Abstimmung zwischen Arzt und Sprechstundenhilfe.

ABENDBLATT: Warum geschieht das aber nur in wenigen Praxen?

BERTRAM: Gute Frage, denn am Ende sind alle sauer: Patienten, Ärzte und die Sprechstundenhilfen. Doch selbst in den Praxen, die ich untersucht habe, gab es zwar ein erstes "Aha!", dann jedoch ist wenig passiert. Viele bleiben bei ihren eingefahrenen Wegen.

ABENDBLATT: Sie haben für Ihre Doktorarbeit nur fünf Praxen untersucht. Kann man da trotzdem allgemeingültige Aussagen treffen?

BERTRAM: Das war nicht mein Anspruch. Ich wollte das Problem beispielhaft aufzeigen und Anstöße geben. Aber: Meine Doktorarbeit ist schon ein paar Jahre alt, und soweit ich weiß, hat sich seither niemand in einem wirklich großen Rahmen mit den Ursachen für die Wartezeiten in Arztpraxen beschäftigt. Dabei ist der Begriff Kundenorientierung in aller Munde.