Herzinfarkt: Er kam schleichend. Peter Wehmer hat ihn nicht bemerkt. Doch er hat überlebt. Der 65jährige schildert mit Humor seine Empfindungen in dieser besonderen Situation.

Eine Horrorvorstellung. Auf einmal bekommt das Herz zu wenig Blut. Eines der Herzkranzgefäße ist verschlossen. Für den Betroffenen heißt es: auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus! Dann gibt es eine Chance, das Herz und damit das Leben zu retten. Peter Wehmer (65) hat diese Grenzerfahrung mitgemacht.

Ich sitze im Labor, höre den Doktor murmeln: "Scheißspiel" und ahne, daß es um mich geht. Mein EKG ist nicht so, wie es sein sollte. Sekunden später weiß ich, daß ich richtig vermute: "Das is'n Infarkt. Rühren Sie sich nicht vom Fleck! Ich ruf den Rettungswagen!" Ich sitze wie festgenagelt. Herzinfarkt - das hat mir noch gefehlt. Herzinfarkt. Ich doch nicht.

Begonnen hat mein Malheur 26 Stunden vorher. Dienstag abend waren Freunde bei uns, haben uns Wein mitgebracht. Mittwoch morgen trage ich die Kartons in den Keller. Bei jedem Training im Sportklub mute ich mir ein Vielfaches an Belastung zu. Trotzdem: Diesmal ist es ein Hauch zu viel. Mir ist plötzlich schwummerig zumute; der Blutdruckmesser zeigt 188/114 an. Was tun? Hinlegen und warten. Es bessert sich nichts. Doch zum Arzt gehen? Wann immer ich in den 65 Jahren ein Zipperlein hatte, ging es von selbst vorbei. Mein Zustand beeindruckt mich nun doch ein wenig. Ich rufe unseren Hausarzt an, liege zehn Minuten später flach. Das EKG: ohne Befund. Der Doktor macht einen Vorschlag, der mir tags darauf möglicherweise das Leben rettet. Ich soll noch ein EKG machen lassen.

Die Leute vom Rettungsdienst lassen sich Zeit. In dieser Zeit hat sich schon mancher Infarkt für immer erledigt. Nach einer dreiviertel Stunde sind sie da. Mit Notfallkoffer und Atemgerät kommen sie in die Praxis. Sie wollen mich flachlegen. "Is' nicht nötig", meint der Doktor, "er kann bis zum Wagen gehen." Im Rettungswagen werde ich immer wieder gefragt, wie ich mich fühle, ob ich Atemnot, Schmerzen hätte. Nichts von alledem. Ich beschäftige mich mehr damit, welchen Weg wir fahren. In den letzten dreieinhalb Jahrzehnten bin ich die Strecke in die Stadt und zurück etwa 35 000mal gefahren. Jetzt habe ich keine Ahnung, wo ich bin. Das beunruhigt mich. An den Infarkt denke ich nicht. Die Maßstäbe verkehren sich ins Absurde. Ich beschäftige mich mit dem Weg, während der Rettungsmann wieder fragt, ob ich Atemnot oder Schmerzen hätte. Hab ich nicht - mich interessiert nur, wo ich bin.

Der Wagen fährt ein Stück bergauf. Das muß die Rampe zur Notaufnahme. Ich werde ins Krankenhaus hineingerollt. Eine junge Frau, eher Schwesternschülerin als Schwester, ruft: "Da kommt der Infarkt!" Woher sie weiß, daß ich im Verdacht stehe, einen Infarkt zu haben - ich weiß es nicht. Ich werde durch eine Empfangshalle geschoben, dann in ein Zimmer, in dem mehrere Damen und Herren in Weiß schon auf mich warten. Man zieht mir ein Flügelhemd an, das ich sonst aus modischen Gründen zurückweisen würde. In meinen linken Arm wird ein Loch gebohrt. Eine Art "Mehrfachstecker" wird angebracht, drei Infusionen werden gelegt. Blutverdünner, Kochsalz und noch was. Alles durch ein Loch im Arm. Im übrigen ist mir alles egal. In diesem Raum gibt es nur einen, den mein Infarkt kaum interessiert, und das bin ich. Vielleicht schützt sich die Psyche so gegen die Angst, die ich haben müßte.

Die Infusionen laufen munter vor sich hin. In meiner Nase steckt die Sauerstoffversorgung. Ich hatte befürchtet, daß die Luftholhilfen tief in die Atemwege eingeführt würden. Ist aber nicht so. Nach eineinhalb Zentimetern ist Schluß. Nichts hindert mich daran, auch in diesem Zustand ein wenig schlauer zu werden. An einem Schreibtisch sitzt eine junge Ärztin. Sie beginnt, mich sanft, aber bestimmt zu verhören. Ich weiß nicht mehr, wie viele Fragen sie mir gestellt hat, aber am Ende sieht sie einen gläsernen Patienten vor sich. Die junge Frau weiß alles über mich, zumindest kennt sie meine Krankheits- oder besser Gesundheitsgeschichte, denn zu einer Krankheit habe ich es bisher noch nicht gebracht. Als ich nach meinen Rauchgewohnheiten gefragt werde und antworte, vor 25 Jahren hätte ich Schluß gemacht, kommt ein "Schön!" Und als ich auf die Frage, ob ich Alkohol trinke, mit "Nein!" antworte, aber einschränke, daß ich gern Bier zu mir nähme, kommt die erbarmungslose Nachfrage: "Wieviel denn so am Tag?" Ich bleibe mit meiner Antwort im unteren Randbereich der Wahrheit. Der Kommentar: "Na, das ist ja ganz schön!"

Wenn ich vor etwas Angst habe, dann vor dem, was jetzt kommt. Als das Wort "Herzkatheter-Untersuchung" fällt, rutscht mir das Herz ins Flügelhemd. Die Vorstellung, jemand fährt mir mit einer Sonde durch eine Einstichstelle in der Leiste oder oberhalb des Handgelenks auf dem Weg über eine Schlagader ins Herz, macht sich dort zu schaffen - das läßt mich ins Schwitzen geraten. Was aber niemanden interessiert. Ich bin mit meinem Bett schon unterwegs in den "OP-Bereich". Zwei Schwestern in Grün legen meine hundert Kilo auf den Untersuchungstisch. Ich werde angenehm gebettet. Daß angesichts einer Katheter-Untersuchung etwas bequem sein könnte, habe ich vor fünf Minuten noch nicht für möglich gehalten. Ich komme mir vor, als sei ich für die Damen ein lieber Gast. Von kalter Routine keine Spur. Ich fange an, mich wohl zu fühlen. Die Angst ist weg. Der Oberarzt kommt. Bevor das Fracksausen wieder da ist, erklärt er mir, was er tun wird. Es könne mir höchstens ein wenig warm ums Herz werden, wenn er das Kontrastmittel spritze. Warm ums Herz - ein schönes Bild. Der Doktor sagt, daß ich alles auf einem Monitor verfolgen könnte, nur zuweilen das über meiner Brust aufgehängte Röntgengerät mir die Sicht versperren werde. Ich versuche, witzig zu sein, und entgegne, daß seine freie Sicht wohl wichtiger sei als die meine. Mir geht's gut. Unter örtlicher Betäubung setzt der Doktor einen winzigen Schnitt oberhalb des rechten Handgelenks, durch den der Katheter in die Schlagader, den Arm hinauf und dann durch eine Rechtskurve weitergeführt wird. "So, jetzt sind wir im Herzen", sagt er und meint damit den Katheter. "Wir" sind drin, und ich habe nichts davon bemerkt. Via Monitor sehe ich das drahtähnliche Gebilde in meiner Pumpe, die sich regelmäßig zusammenzieht und wieder entspannt. Nach einer halben Stunde ist die Prozedur beendet. Die Hauptverengung in meinem linken Herzkranzgefäß, der Auslöser meines Infarkts, ist mit einem Ballon geweitet. Ein Stent, eine röhrchenartige Gefäßstütze, wird dafür sorgen, daß sich die Stelle nicht erneut zusetzt. Den Beweis für die erfolgreiche Aktion bekomme ich nach dem Eingriff. Ein Foto "vorher" zeigt meine Arterie, durch die kaum noch Blut fließt. Ein Foto "danach" dokumentiert den Erfolg der Katheter-Behandlung: Eine dicke, pralle Arterie, durch die das Blut strömt. "Da sind noch zwei Engstellen, die machen wir in sechs Wochen." Ich werde von den beiden heiteren Damen erneut sanft gebettet, diesmal in mein Bett. Nach dieser halben Stunde frage ich mich, wovor ich Angst gehabt hatte.

In den nächsten Tagen geht es zügig aufwärts. Mein Herz hat beim Infarkt keinen Schaden davongetragen. Was bleibt, ist das flaue Gefühl, meinen Herzinfarkt nicht bemerkt zu haben. Nichts von eisernen Klammern, die die Brust zusammenquetschen, kaltem Angstschweiß, Panikgefühl und ausstrahlenden Schmerzen. Ich habe an jenem Donnerstag acht Stunden lang mit dieser Betriebsstörung gelebt, ohne darauf achten zu können, weil ich nichts davon wußte. Der zeitliche Ablauf: Etwa um 3 Uhr rappelte es in meinem Herzen: Infarkt. Gegen 7 Uhr Blutdruckmessung, stinknormal, 130/70. Nach dem Frühstück Fahrt mit dem Auto zum Friseur, zur Behindertenwerkstatt. Dann Mangelwäsche wegbringen, zum Baumarkt. Ich fahre nach Hause, gehe zum vereinbarten Arzttermin. Mein EKG bringt "es" an den Tag.

Wo wäre ich heute, wenn dieser EKG-Termin an meinem zweiten Geburtstag nicht gewesen wäre?