Alfred Russel Wallace hatte sein Manuskript zuvor an Darwin geschickt. Ungeklärt ist, ob der daraufhin seine zuvor skizzierten Thesen noch mal überarbeitet hat.

Am 1. Juli vor 150 Jahren, also 1858, wurden erstmals die Grundlagen der Evolutionsbiologie vorgestellt - in den Räumen der ehrenwerten Linne-Gesellschaft in London am Piccadilly Circus. "Auf dem Treffen, zu dem 30 Mitglieder kamen, lasen die Sekretäre der Gesellschaft die von Charles Darwin und Alfred Russel Wallace verfassten Texte stellvertretend für die Autoren vor", erzählt Dr. Matthias Glaubrecht. Der Evolutionsbiologe ist Forschungsdirektor des Berliner Museums für Naturkunde. In der kommenden Woche wird er in einem Vortrag in Hamburg (siehe Hinweis am Ende) mit einigen Legenden aufräumen - und von einer "gravierenden Fehleinschätzung" berichten.

Denn Ende 1858, dem Jahr der Evolutionstheorie, notierte Thomas Bell, der Präsident der Linne-Gesellschaft, das zurückliegende Jahr sei "nicht von wissenschaftlichen Durchbrüchen gekennzeichnet".

Dabei ist die Evolutionstheorie bis heute Bestandteil der Naturwissenschaft und Darwin weltweit ein Begriff.

Wer aber ist Alfred Russel Wallace, der zweite Autor der weltverändernden Theorie?

Der Zoologe Wallace (1823-1913) war damals gerade auf einer acht Jahre währenden Expedition durch den Malaiischen Archipel und sammelte im Nordwesten Neuguineas Naturalien - gut 12 000 Kilometer von London entfernt. Und obgleich sein Manuskript Anlass für jenen Abendvortrag bei der Linne-Gesellschaft gewesen war, wird Wallace von der Geschichte der Biowissenschaften stiefmütterlich behandelt, während Darwin (1809-1882) als Begründer der Abstammungslehre gilt.

Wallace hatte - unabhängig von Darwin - trotz eines Anfalls von Dschungelfieber in einer Pfahlhütte auf der Insel Ternate im indomalaiischen Archipel mit dem Prinzip der natürlichen Selektion den entscheidenden Mechanismus der Evolution erkannt. Das Manuskript mit seinen bahnbrechenden Gedanken schickte er zur Prüfung an den hoch angesehenen Charles Darwin. Hat Darwin von Wallace abgeschrieben? "Mehrfach wurde der Verdacht laut. Allerdings hatte Darwin bereits 1844 einen 230 Seiten starken Essay zur Evolution formuliert, den er aber unter Verschluss behielt, weil er mehr Fakten sammeln wollte", so Glaubrecht. Darwin wusste, dass er einer großen Sache auf der Spur war und sie gut begründen musste. "Als er im Sommer 1858 das Manuskript von Wallace erhielt, in dem dieser die Idee vom 'Überleben der Tauglichsten' beschrieb, hatte Darwin zwei Drittel seines 700-Seiten-Manuskriptes ausgearbeitet", sagt Glaubrecht. "Das Brisante ist, dass wir wissen, dass Darwin sein Manuskript just in jenen Tagen Ende Mai, Anfang Juni 1858 noch mal an entscheidender Stelle überarbeitet hat. Die letztlich nicht zu beantwortende Frage ist: Tat er das, nachdem er das Manuskript von Wallace bekommen hatte?"

Dieses könnte mit dem Postdampfer früher eingetroffen sein. Das haben Historiker akribisch rekonstruiert, um mehr über den Wettlauf um die Entdeckung der Evolutionstheorie zu erfahren und Licht in einen der wichtigsten Vorgänge der Biologie-Geschichte zu bringen. "Darwin Betrug vorzuwerfen", so Glaubrecht, "geht in jedem Fall zu weit." Doch die Umstände der ersten Veröffentlichung der Evolutionstheorie durch natürliche Selektion sind tatsächlich eigenartig. Und was in Geschichtsbüchern meist als Zeugnis des Großmuts zweier Forscher dargestellt wird, ist ein geradezu 'delikates Arrangement', bei dem sich niemand die Mühe machte, Wallace um Zustimmung zu bitten."

Als die Thesen beider Forscher verlesen wurden, war übrigens auch Darwin nicht in London, sondern in seinem etwa 25 Kilometer entfernten Haus in Kent. Er hatte sich schon Jahre zuvor aus dem gesellschaftlichen Leben Londons zurückgezogen und arbeitete an der Formulierung seiner Theorie. Damals waren gerade zwei seiner Kinder krank, ein Sohn starb. Als Wallace 1862 in England eintrifft, erweist er sich Darwin gegenüber als ebenso dankbar wie großmütig. So trägt Wallace selbst dazu bei, dass nur Darwin als Vater des Evolutionsgedankens gilt.

Heute bezeichnet die Linne-Gesellschaft die Lesungen am 1. Juli 1858 als "größten wissenschaftlichen Meilenstein in der Geschichte".


"Darwin, Wallace und der Wettlauf um die Entdeckung der Evolutionstheorie", Matthias Glaubrecht, Dienstag, 1. Juli, 18 Uhr, Zoologisches Museum, Martin-Luther-King-Platz 3, Eintritt frei.