Die Archäologen vor Ort sind überzeugt: Die frühen Christen, die hier Unterschlupf fanden, waren jene 70 aus dem Lukas-Evangelium, die Jesus “wie Schafe unter die Wölfe“ geschickt hat.

Hamburg. "Mit Jesu Hinrichtung schien sein Werk vernichtet; seine Anhänger zerstieben in alle Winde", schreibt der große, aus Hamburg stammende Althistoriker Eduard Meyer 1921 in seinem Standardwerk "Ursprung und Anfänge des Christentums", doch: "Der Eindruck, den er in den schlichten Männern seiner Gefolgschaft hinterlassen hatte, ließ ihnen keine Ruhe, bis sie für das Unbegreifliche, das sie erlebt hatten, das erlösende Wort gefunden zu haben glaubten. Dadurch haben sie die Fähigkeit zu einer Weltwirkung ohnegleichen erlangt."

87 Jahre später scheinen Archäologen einen der Orte gefunden zu haben, an dem die zerstreuten Schafe nach dem Tod des Hirten in tiefster Verzweiflung den Keim einer neuen Hoffnung nährten: "Wir haben entdeckt, was wir für die älteste Kirche der Welt halten", sagt der jordanische Archäologe Dr. Abdul Kader al-Hussan. "Wir glauben, dass sie die frühesten Christen beheimatete, die siebzig Jünger Jesu, die nach dem Tod ihres Meisters aus Jerusalem hierher geflüchtet sind."

Der heilige Ort findet sich in einer Höhle unter dem Hauptaltar der alten St.-Georgs-Kirche in dem jordanischen 25 000-Seelen-Städtchen Rihab. In den roten Fels der etwa zwölf Meter langen und sieben Meter breiten Grotte sind sieben steinerne Sitze gemeißelt, und al-Hussan sah "viele wunderbare Dinge": "Ich entdeckte den Friedhof dieser Kirche, wir sammelten Tonscherben, Lampen mit Inschriften, Münzen und eiserne Kreuze. Ein Tunnel führt zu einer Zisterne." Auf dem Boden bezeichnet ein Mosaik den Ort als die Heimat der "siebzig von Gott Geliebten und Göttlichen."

Der Untergrund bot Betstätte und Bettstatt, die Verfolgten richteten sich neben der Höhle wohnlich ein. Nach Ansicht des Archäologen führen Inschrift und Funde unmittelbar zu jenem 7. April des Jahres 30 zurück, an dem der Gottessohn verurteilt, gefoltert, gekreuzigt und begraben wird. Die Apostel fliehen entsetzt und verstecken sich. Petrus streitet ab, Jesus überhaupt zu kennen. Nur Johannes, mit dem Hohepriester bekannt, wagt sich mit den Frauen aus dem Gefolge Jesu unter das Kreuz. Andere Jünger, die mit dem Messias umherzogen, verlassen Jerusalem, um in ihre Dörfer zurückzukehren, die meisten wohl in der berechtigten Angst, ebenfalls hingerichtet zu werden: Die Apostel werden vom Hohen Rat der Sadduzäer und Pharisäer, der auch unter der Römerherrschaft über alle religiösen Fragen richtet, erst verwarnt und dann ausgepeitscht, der Diakon Stephanus wenig später gesteinigt.

Das ruhige Landstädtchen Rihab zwanzig Kilometer östlich des Jordan bewahrt eine alte Tradition, nach der einst Jesus mit seiner Mutter Maria auf der Rückkehr aus Ägypten durch seine Mauer zog: Die Heilige Familie wandert nach dem Tod des gefürchteten Königs Herodes des Großen, des Kindermörders von Bethlehem, an der Mittelmeerküste entlang bis nach Askalon, durch das Land der Samariter nach Nazareth in Galiläa und dann wieder südwärts durch die Peräa im heutigen Jordanien nach Jericho, bevor sie umkehrt und sich doch in Nazareth niederlässt. Galiläa und die Peräa gehören zum Herrschaftsgebiet des Herodes-Nachfolgers Herodes Antipas, zu dem Jesus später nach seiner Verhaftung geführt wird, der aber mit dem beharrlichen, schweigenden Messias nichts anfangen kann und ihn zu Pilatus zurückschickt.

Im Gebiet dieses Königs, der sich meist in Jerusalem aufhält und wenig um Land und Volk kümmert, dürfen sich die ersten Christen, die damals noch als abtrünnige jüdische Sekte gelten, einstweilen vor den Religionsbehörden sicher fühlen. Die bedeutungsvolle Zahl 70 taucht im Lukas-Evangelium auf, als Jesus siebzig - nach manchen Übersetzungen 72 - Jünger aussendet "wie Schafe mitten unter die Wölfe", mit der Vollmacht, "auf Schlangen und Skorpione zu treten und die ganze Macht des Feindes zu überwinden". Das göttliche Versprechen "Nichts wird euch schaden können" birgt einen starken Trost für Verfolgte und Versprengte, die sich ein paar Wochen später wieder wie unter Raubtieren fühlen müssen.

Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen angeblich, dass die Höhle bereits in den Jahren 33 bis 70 n. Chr., also schon unmittelbar nach der Katastrophe von Golgatha, bezogen und bewohnt wird. Nach Ansicht des Archäologen hat sich damals eine größere Gruppe aus der Anhängerschaft des Messias, womöglich eben die siebzig aus dem Lukas-Evangelium, in das Städtchen geflüchtet und die Grotte zu einer ersten Kirche ausgebaut, um darin nach Jesu Auftrag das Opfer feiern zu können.

Der Bau der St.-Georgs-Kirche wird von al-Hussan auf das Jahr 230 datiert. Um diese Zeit haben die Nachfahren der siebzig eine Zeit ohne Verfolgung erlebt, in der Kirchenväter wie Tertullian, Clemens oder Origenes den jungen Glauben ordnen können. In vielen Städten des römischen Imperiums gibt es Bistümer, die Seelenhirten reisen zu Synoden, der Missionar Panteas schafft es gar bis nach Indien. Doch schon zwanzig Jahre später zettelt Kaiser Decius die heftigste Verfolgung an, die je die Kirche traf: Imperiale Edikte befehlen allen Bürgern, den traditionellen römischen Göttern zu opfern. Wer sich weigert, wird hingerichtet; mit Zehntausenden Märtyrern sterben auch die Bischöfe der Hauptstädte Rom, Antiochia und Jerusalem, und die Nachkommen der siebzig von Rihab kehren in die geheime Grotte zurück.

Kaiser Valerian (253-260) verbietet Christen sogar, ihre Friedhöfe zu besuchen. Kaiser Diokletian befiehlt 303 die Zerstörung aller Kirchengebäude. "Nach historischen Quellen haben die Nachfahren der siebzig ihre Rituale im Untergrund praktiziert, bis das Christentum im vierten Jahrhundert Staatsreligion wurde", sagt Archäologe al-Hussan. Die Kirche, wie immer sehr vorsichtig in solchen Fällen, wartet auf mehr wissenschaftlichen Beweis nicht nur für den Ort, sondern vor allem für seine Bewohner, doch der griechisch-orthodoxe Archimandrit Nektarios nennt die Entdeckung schon mal einen "bedeutenden Meilenstein für die Christen in aller Welt".

Rihab ist mit seinen bisher entdeckten dreißig Kirchen vom dritten bis in das siebte Jahrhundert ein wichtiges Glaubenszentrum der Frühzeit, bis die islamische Eroberung die blühenden christlichen Kulturen im gesamten Nahen Osten zerstört. Jetzt sollen Ausgrabungen im Tunnel und in der Zisterne weitere Fakten über die Kinderjahre der erfolgreichsten Weltreligion fördern. Schon jetzt verlegt der Fund die Entstehungszeit der ersten christlichen Kirchen um zwei Jahrhunderte zurück. Der Dortmunder Theologieprofessor Rainer Riesner meldet indes Zweifel an: Bisher gebe es noch nicht einmal Beweise dafür, dass die St.-Georgs-Kirche von Rihab tatsächlich in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts errichtet worden sei. Dementsprechend schwierig sei es, das Alter der darunter liegenden Höhle richtig zu bestimmen. Für die These, dass sich dort die siebzig Jesu-Jünger aus dem Lukas-Evangelium versteckten, gibt es nach Ansicht des Theologen keinerlei wissenschaftlichen Beleg.

Andere Kritiker vermuten gar, die Entdeckung solle vor allem dem jordanischen Tourismus aufhelfen: Al-Hussan leitet das Zentrum für Archäologische Studien in Rihab. "Das kreisförmige Areal mit den Steinsesseln, die Apsis, ist wichtig", sagt er. "Es gibt nur noch eine andere solche Höhle auf der Welt, und die wurde eindeutig zur christlichen Gottesverehrung genutzt" - allerdings später, und fern im griechischen Thessaloniki.