Die Kräfte des Seegangs im Verhältnis zur Stabilität des Schiffes sind entscheidend für eine sichere Fahrt - ein Computermodell hilft weiter.

Die versunkenen Fähren "Herald of Free Enterprise" und "Estonia" machten 1987 und 1994 Schlagzeilen, hier waren Hunderte Tote zu beklagen. Andere Unglücke von Frachtern und Fähren stehen nicht im Rampenlicht. Für sie interessiert sich ein Konsortium von Schiffbauforschern aus der Technischen Universität Hamburg-Harburg (TUHH), der Hamburgischen Schiffbauversuchsanstalt (HSVA), der TU Berlin und Flensburger Schiffbau-Gesellschaft. Gemeinsam simulieren sie gefährliche Vorkommnisse durch Seegang, rekonstruieren Schiffsverluste und arbeiten daran, die Sicherheit auf den Meeren zu erhöhen.

"Die Brisanz von seegangsbedingten Schäden ist in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Die heute verwendeten Stabilitätskriterien für Seeschiffe stammen größtenteils noch aus den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die heutigen Rumpfformen machen speziell Containerschiffe und RoRo-Fähren anfällig für seegangsbedingte Bewegungen, die im Extremfall zum Kentern führen können", sagt Prof. Stefan Krüger, Leiter des Instituts für Schiffssicherheit an der TU. Ein zweites Problem ist der Schwund von Containern. Krüger: "Jedes Jahr gehen nach Schätzungen mindestens zehn- bis fünfzehntausend Container bei schwerem Wetter verloren."

Besonders gefährlich sei nachlaufender Seegang, also Wellen von achtern, so der Schiffbauingenieur: "Seitlicher Seegang kann einen intakten Frachter normalerweise nicht zum Kentern bringen. Schwere See von vorn kann zu Ladungsverlusten führen, aber bei ausreichender Stabilität nicht zum Kentern. Bei Wellen von hinten, die in Fahrtrichtung unter dem Schiff hindurch laufen, kann es dagegen dazu kommen, dass der Frachter mittschiffs von einer Welle so angehoben wird, dass sein Bug und Heck relativ lange aus dem Wasser ragen. Dies ist eine äußerst instabile Situation und kann zum Kentern führen."

Zum Kentern muss das Schiff ins "Rollen" kommen. Das Rollen bezeichnet die seitliche Drehbewegung um die Längsachse des Schiffes im Seegang (das Auf und Ab in Längsrichtung heißt Stampfen). Doch wie genau kentern Schiffe bestimmter Bauart auf hoher See? Um dies zu erforschen, setzen Experten der HSVA Modellschiffe einem möglichst genau definierten Seegang aus. Die Harburger TU-Wissenschaftler gingen parallel dazu einen anderen Weg: Sie entwickelten das Simulationsprogramm "Rolls", das per Computer Seegang und Schiffsbewegungen möglichst genau nachbildet.

Wie der Name schon sagt, ist "Rolls" auf das Rollen spezialisiert. In diesem Bereich sei das Programm heute weltweit führend, so Krüger, vor allem, weil es so schnell ist und daher eine Vielzahl von Simulationen in angemessener Zeit ermöglicht. Wenn die Harburger Simulationen ein Schiff virtuell gekentert haben, werden die Erkenntnisse anschließend in Barmbek, im Versuchsbecken der HSVA, am Modell überprüft.

Die gebündelte Expertise in der Hansestadt führte dazu, dass die Hamburger Experten im Sommer 2006 von der schwedischen Regierung den Zuschlag bekommen haben, den Untergang des Fährschiffs "Estonia" zu simulieren - Krüger und der Projektleiter Dr. Petri Valanto von der HSVA wollen die Ergebnisse im Mai in Stockholm präsentieren.

Die "Estonia" sei aber kein typischer Fall für "Rolls", so Krüger. Das Programm wurde Anfang der 80er-Jahre am damaligen Institut für Schiffbau der Universität Hamburg entwickelt, zunächst, um die letzten Minuten des Hamburger Containerfrachters "E.L.M.A. Tres" nachzuvollziehen. Er sank am 26. November 1981 in einem schweren Sturm vor den Bermuda-Inseln, riss 23 der 24 Besatzungsmitglieder mit in die Tiefe. "Mein Kollege und Lehrer Professor Heinrich Söding konnte mit dem Programm damals zeigen, dass das Schiff überladen war."

Anschließend verschwand "Rolls" jahrelang in der Versenkung. Vor gut einem Jahrzehnt kam das Programm wieder ins Rollen. Nach dem "Estonia"-Unglück mit 852 Toten brandete eine öffentliche Diskussion um die Sicherheit von Fähren auf - weniger auf Werften, denn sie wussten im Prinzip, dass das estnische Fährschiff miserabel gewartet war. Aber auch dort gab es eine Sicherheitsdiskussion. Krüger arbeitete damals noch für eine Flensburger Werft: "Die Fähren wurden zum einen immer schneller. Zum anderen wurde uns immer bewusster, dass die Kräfte des Seegangs bei der Schiffsentwicklung zu wenig berücksichtigt werden."

So wuchs der Bedarf, mit Hilfe eines Computerprogramms diesen Faktor zukünftig in die Entwicklung der Schiffe einzubeziehen. Einen zweiten Impuls setzte das Stockholmer Abkommen. Als Konsequenz der "Estonia"-Katastrophe verlangt es, bei den Sicherheitskalkulationen eingedrungenes Wasser an Bord zu betrachten - wieder fehlte zunächst entsprechende Software.

"Rolls" lernte daher Mitte der 90er-Jahre, mit eingedrungenem Wasser zu rechnen. Heute vollziehen die Hamburger Experten alle Fälle von gekenterten Fähren und Frachtern nach, von denen sie ausreichendes Datenmaterial bekommen - und leisten so einen Beitrag dazu, dass in Zukunft Schiffsunglücke durch Kentern (noch) seltener auftreten.