Der Typ Aufreißer ist out. An seine Stelle tritt der einfühlsame “Liebeskünstler“. Aber wer bereitet den eigentlich auf die Tricks der immer zahlreicheren jungen Herzensbrecherinnen vor?

Hamburg. "Was im Kopf des Jungen vorgeht, der Ihre Tochter ausführt": Mit dieser Überschrift berichtete die "New York Times" über eine neue Studie zum Sexualverhalten von Jugendlichen - und landete einen Volltreffer. In der Online-Ausgabe schnellte der Artikel an die Spitze der zehn "Most popular"-Themen, die am häufigsten angeklickt werden, und erntete eine Flut von Leserzuschriften.

In der Studie ging es um die eigentlich simple Frage: Aus welchen Gründen verabreden sich Jungs mit Mädchen? Psychologen der New York State University in Oswego hatten dazu 105 Highschool-Jungen befragt.

Das Ergebnis: Körperliche Anziehungskraft ist offenbar nicht das entscheidende Motiv. Mehr als 80 Prozent der 16-Jährigen kreuzten an: "weil ich die Person wirklich mag". An zweiter Stelle folgten "finde die Person attraktiv" und "möchte die Person besser kennenlernen" (das Geschlecht wurde, politisch korrekt, offengelassen).

Die meisten der Jungen bezeichneten sich als beziehungserfahren, 40 Prozent gaben an, sexuell aktiv zu sein. Hier wurde nachgefragt, warum sie Sex wollten. Die häufigsten Antworten waren "körperliches Begehren", "erkunden, wie sich Sex anfühlt" und "weil ich wirklich verliebt bin". Nur 14 Prozent wollten endlich ihre Unschuld verlieren, und neun Prozent fühlten sich unter Erwartungsdruck ihrer Clique.

Für die Forscher widerlegen diese Ergebnisse die landläufige Meinung, Jungen wollten in erster Linie Sex und nicht Beziehungen. Die meisten sehnten sich nach echter Partnerschaft, sagte der Psychologe Andrew Smiler. Die Befragung habe außerdem gezeigt: Nur sehr wenige Eltern reden mit ihren Söhnen über romantische, körperliche und platonische Beziehungen. Sie sollten ihnen mitgeben, wie man Beziehungen aufbaut, mit Höhen und Tiefen umgeht, Vertrauen und Verzeihen lernt. Stattdessen: das große Schweigen.

Nichts besonders Neues, könnte man denken. Aber erhellend sind vor allem die Zuschriften der überwiegend erwachsenen Leser/-innen. Zu Wort meldeten sich eifersüchtige Väter ("Jungs wollen nur das eine - seit Jahrhunderten!"), genervte Mädchen ("Warum müssen Jungs einem immer ein Ultimatum stellen?") und einige, die an der Glaubwürdigkeit der Antworten zweifelten. Aber auch viele differenzierte Beobachter/-innen der Jugendszene reagierten: "Meine Nichte, 16, ist verrückt nach Jungs", schreibt einer, "warum glauben wir immer, dass nur Jungen sexgierig wären?" Die ältere Schwester eines Teenagers: "Sie würden sich wundern, mit welchen Tricks Mädchen die Jungen bezirzen und fallen lassen." Etliche wetterten gegen ungerechte Klischees: "Warum gilt das, was Mädchen wollen, als nobel und respektierlich, und das, was Jungen wollen, als ärgerlich und selbstsüchtig?"

Offenbar weckte der Bericht ein Bedürfnis, über die eigene Jugend nachzudenken. Aber lassen sich Erfahrungen aus den 70er-Jahren auf heute übertragen? Sind Mädchen heute viel mutiger? Sollen Eltern ihre Teenager auf Herzensbrecherinnen und Aufreißer vorbereiten - oder auf Schüchterne, die erst wachgeküsst werden müssen?

Amerikas Eltern sind verunsichert. Es gibt immer wieder Highschool-Skandale; Bestseller-Autor Tom Wolfe prangerte in seinem Roman "Ich bin Charlotte Simmons" 2004 die Suff-, Drogen- und Sex-Exzesse an Elite-Colleges an.

US-Jugendforscher befassten sich daher in jüngster Zeit vor allem mit Risikofaktoren der Jugendsexualität, etwa Gewalt, Ansteckungsgefahr, Sucht und ungewollte Schwangerschaften. In Deutschland ist die Forschung offener. Sozialwissenschaftler wie der Tübinger Jungenforscher Reinhard Winter fanden heraus: Das Erfahrungsspektrum von Jungen zwischen 12 und 17 Jahren ist weit, was Mädchen und Erotik betrifft. Es reicht von "keine Ahnung" und zarter, tastender Annäherung über gezieltes Interesse bis zum Status des "kompetenten Fachmanns".

Und alte Männlichkeitsbilder lösen sich auf. Der Macho überdauere nur noch in Nischen, sagt Reinhard Winter: "Die meisten Jungen grenzen sich klar dagegen ab. Das sind ,Hengste, aber keine Männer', sagen sie." Heutige Jungen wollen eine eigene Persönlichkeit entwickeln. Dabei haben sie eher das Ideal eines "Liebeskünstlers" vor Augen denn des "Frauenhelden".

Winter stimmt dem Trend der US-Studie zu: "Solche Antworten würden wir auch in Deutschland bekommen. Jungen sind sicher interessiert an Sex, aber nicht pur." Bei Vätern und Großvätern habe oft ein großer Drang auf Entladung gewartet, weil Sex tabu war. "Heute gibt es viel mehr Sexualaufklärung und mehr Möglichkeiten, Beziehungen zu gestalten", sagt Winter, "und das tun die Jungen auch."

Kompliziert wird es, weil sich Jungen und Mädchen in der Pubertät sehr unterschiedlich verhalten. Zwar grenzen sich beide zum Umfeld ihrer Kindheit ab und lassen sich nicht mehr gern von Mama oder Papa umarmen. Aber Mädchen werden mitteilsamer und suchen engsten Kontakt zu Gleichaltrigen. Jungen hingegen sind plötzlich die großen Schweiger in der Familie - während sie in der Clique oder mit Vertrauenspersonen sehr gut über sich selbst und ihre Bedürfnisse sprechen können, stellten Marc Hübner und Kathrin Münch in einer Studie 2003 fest.

Viele fühlen sich aber auch sehr allein. "Sie träumen von Intimität, gleichzeitig schämen sie sich dafür, dass sie starke sexuelle Fantasien haben", schreibt die Neuropsychiaterin Louann Brizendine. Viele "New York Times"-Leser bestätigen das. Die meisten Jungen seien "desperately lonely", schreibt einer: "Der typische amerikanische Junge erlebt lange Phasen des Zölibats, unterbrochen von ein paar ernsthaften Beziehungsversuchen." Ein anderer fand Mädchen als Teenager "mysteriös und ein bisschen beängstigend. Ich war überrascht, wie sexuell aggressiv sie sein können. Ich wollte es lieber etwas langsamer angehen und dachte schon, irgendwas stimmt nicht mit mir."

Auch Mädchen irren sich. "Ich dachte immer, ich müsste sexy sein, weil ich nur dann interessant für Jungen wäre", schreibt eine Mittzwanzigerin. "Ich glaube, dadurch habe ich mehr als einen tollen Jungen vergrault, der so unerfahren wie ich war. Als ich raushatte, dass Jungs genauso gerne reden und genauso nervös wegen Sex sind wie ich, war es plötzlich viel einfacher."

Einig sind sich die Leser/-innen: Eltern machen immer noch einen lausigen Job bei der Sexualaufklärung. Auf der anderen Seite wollen viele Eltern penetrant in die "Privatsphäre" ihrer Söhne eindringen und harte Facts hören: Haben sie nun, oder haben sie nicht? Aber kaum einer führt ein vertrauensvolles Gespräch etwa über Zungenküsse oder warum man ein bestimmtes Mädchen besonders mag. Oder gar, wie man auf elegante Art zur rechten Zeit ein Kondom ins Spiel bringt.

"Es gibt so eine kleinbürgerliche Idee von Sexualaufklärung", sagte Oswalt Kolle vor Jahren in einem Interview: "Da setzt sich der Vater mit seinem Sohn, wenn der 16 ist, bei einem guten Glas Wein hin - es muss immer ein gutes Glas Wein sein - und sagt: ,Was deine Mutter und ich damals gemacht haben, das machen auch die Vögel und die Bienen', und damit ist das dann abgeschlossen." So wie in "Pappa ante Portas", wo Vater Heinrich Lohse (Loriot) mit seinem Sohn mal ein richtiges "Männergespräch" führen will - verklemmt und fruchtlos.

Und in der Schule? Sexualaufklärung erschöpft sich meist im Technischen. "Die weichen Themen - Gefühle, Zärtlichkeit, auch das mögliche Versagen - kommen dort nicht vor", sagt Jungenforscher Winter. "Deshalb weichen Jungen auf den kommerziellen Markt aus: ,Bravo', Pornos im Internet oder Sex-Mangas auf dem Handy."

Immer wichtiger wird aber die Peer Group der gleichaltrigen Kumpels. "Peers agieren als Informanten, Ratgeber, Kuppler, Tröster, Spötter und Begleiter, wenn Jugendliche erste erotische Annäherungsversuche starten, wenn sich Paarbeziehungen anbahnen oder erste Niederlagen verarbeitet werden müssen", so eine Kölner Studie über "das erste Mal".

Eltern werden das kennen. Wenn Töchter Liebeskummer haben, kriegt es die halbe Welt mit, und sie kauen das Drama stundenlang mit Freundinnen durch. Hat der Sohn Liebeskummer, läuft er still mit Grabesmiene herum. Kommen seine Kumpels, schirmen sie ihn ab wie König Artus' Ritterrunde - vor allem gegen allzu wissbegierige Mütter. Eine Bekannte erzählt, sie sei an der Tür ihres Sohnes regelrecht abgewiesen worden: "Er braucht jetzt Ruhe", hieß es.

Für Winter sind Peers keine schlechte Lösung. "Jungen stellen in der Pubertät fest, dass sie eine Hürde überwinden müssen", sagt er: Plötzlich sollen sie mit einem Mädchen über ihre Gefühle und Bedürfnisse reden können. Zweitens sollen sie mit Zärtlichkeit und Sex umgehen. "Den Weg müssen sie allein finden", sagt Winter. "Das ist ein dramatisch hoher Anspruch."