Suche am Vesuv: Aristoteles und Sophokles: Viele Werke der großen Philosophen wurden nie entdeckt. Forscher vermuten sie in der Bibliothek von Herculaneum, die beim Vulkanausbruch im Jahr 79 verschüttet wurde. Jetzt planen sie dort die bedeutendste Ausgrabung des 21. Jahrhunderts.

Oxford. "Ein dichter Dunst folgte uns im Rücken, wie ein Strom auf dem Lande, und die Nacht brach über uns herein wie die Dunkelheit in einem geschlossenen Raum ohne Lampe." So erlebte und notierte Plinius der Jüngere den Ausbruch des Vesuv am 24. August des Jahres 79. Die glühenden Gesteinsmassen vernichteten nicht nur Pompeji und benachbarte Städte und rissen mehrere tausend Menschen in den Tod. Sie legten auch in Herculaneum eine der größten Bibliotheken des Altertums in Schutt und Asche. Und dort hoffen britische Forscher nun literarische Schätze zu finden, die seit zwei Jahrtausenden verschollen sind.

Unter der bis zu 30 Meter hohen Lavaschicht könnten unzählige verkohlte Papyrus-Schriftrollen "überlebt" haben, die man dank einer neuartigen Spektralanalyse lesen kann. Erste Ausgrabungen der 1738 entdeckten Bibliothek förderten bereits 1800 Papyri zutage. Probebohrungen haben inzwischen ergeben, daß die an einem Hang gelegene Bibliothek neben dem bisher erforschten Obergeschoß noch drei Untergeschosse besaß. Die haben Wissenschaftler der Universität Oxford im Visier, und das im Wettlauf mit der Zeit, da Vulkanologen zufolge ein erneuter Ausbruch des Vesuv bereits überfällig ist und die Reste der Bibliothek zerstören könnte.

Ein Team von Archäologen und Altertumsforschern hat sich in Oxford als "Herculaneum-Society" mit dem Ziel konstituiert, das Projekt "Villa Papyri" mit einem weltweiten Spendenaufruf flottzumachen. 20 Millionen US-Dollar werden dazu benötigt. Die Dimensionen des Baus sind inzwischen abgesteckt. Er hatte eine Länge von 250 Metern, was zwei Fußballfeldern entspricht. Bei dem ersten "Anstich" 1738 wurden unter anderem erlesene Mosaikfußböden ans Tageslicht gefördert. Eine der verkohlten Buchrollen wurde später Napoleon zum Geschenk gemacht.

Die damals gegrabenen Tunnel wurden anschließend versiegelt. Die 1800 verkohlten Schriftrollen sind inzwischen behutsam entrollt und dank des MSI-Verfahrens (Multi-Spectral Imaging) identifiziert. Insgesamt 30 000 auf CD-Rom zugänglich gemachte Seiten konnten auf diese Weise erschlossen werden, darunter die Hälfte der seit 2300 Jahren verschollenen Werke des griechischen Philosophen Epikur. Entdeckt wurde auch eine Abhandlung des Zenon von Sidon, den Cicero bei einem Vortrag in Athen hörte. Professor Richard Janko von der Universität Michigan betonte, dieser Text sei der erste der Schriften dieses Philosophen, die sämtlich in der Spätantike verloren gingen.

Kein Wunder, wenn Altphilologen und Philosophen sich die Morgenröte einer fröhlichen Wissenschaft mit zahlreichen neuen Texten erhoffen. Professor Robert Fowler von der Universität Bristol sagt: "90 Prozent der Schriften des Altertums sind im Mittelalter verloren gegangen."

Herculaneum ist auch deshalb von allergrößtem Interesse, weil die im Altertum als Schreibpapier benutzte Papyrusrolle, zusammengeleimte Streifen aus der in Ägypten wachsenden Papyrusstaude, als organisches Material keine Lebensdauer von zwei Jahrtausenden erreicht. Nur unter außergewöhnlichen Umständen wie durch Verkohlen als Folge von Hitzeeinwirkung und anschließendem hermetischen Verschluß vor Lufteinflüssen können Schriftzeichen auf Papyrus erhalten bleiben.

Altphilologen schließen nicht aus, daß eine so bedeutende Bibliothek wie die von Herculaneum ein Hort der Schriften des klassischen Altertums war, vielleicht als einzige vergleichbar der legendären Bibliothek von Alexandria. Diese im dritten vorchristlichen Jahrhundert gegründete Bibliothek mit ihren 700 000 Buchrollen wurde im vierten bzw. siebten Jahrhundert weitgehend vernichtet, was als größte Katastrophe der Geistesgeschichte beklagt wurde.

Wenn das Obergeschoß der Bibliothek von Herculaneum schon solche Schätze barg wie verschollene Werke von Epikur, enthalten dann die drei seit 79 n. Chr. eingesargten drei Untergeschosse Texte der Antike, von denen das Abendland bisher nur träumen konnte? Experten betonen, daß von den 123 Stücken, die Sophokles nach der Überlieferung schrieb, nur sieben bekannt sind. Euripides werden über 90 Stücke zugeschrieben, in Alexandria wurden Walter Jens zufolge noch 75 gelesen, aber wir kennen nur 17 Tragödien und ein Satyrspiel. Aischylos schrieb 70 bis 90 Stücke, uns sind nur sieben bekannt. Eine so groß angelegte Bibliothek könnte ferner Standardwerke der Zeit beherbergt haben wie die Geschichte Roms von Livius. Über 100 der 142 Bücher dieses Monumentalwerks der Geschichtsschreibung sind verschollen. Von größtem Interesse wären Werke des Aristoteles, einer der geistigen Säulen des Mittelalters.

Ein Professorenteam mit Gelehrten von Harvard, Oxford und London erklärte: "Wir können damit rechnen, gute zeitgenössische Abschriften bekannter Meisterwerke und anderer Werke zu finden, die der Menschheit seit zwei Jahrtausenden verloren waren. Ein Kulturschatz von größerer Bedeutung ist unvorstellbar." Und Professor Fowler meint, das Projekt "Villa Papyri" könnte sich als bedeutendste archäologische Ausgrabung des 21. Jahrhunderts erweisen.

Um das geplante Ausgrabungsprojekt ist indes ein Gelehrtenstreit entbrannt. Während der Oxforder Kreis so bald wie möglich graben will, auch eingedenk der Erdbeben- und Vulkangefahr, warnt Professor Andrew Wallace-Hadrill, Direktor des britischen Instituts in Rom, unter Hinweis auf nicht wiedergutzumachende Fehler, die bei Ausgrabungen in Herculaneum in den 30er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts gemacht wurden: "Es wäre fatal, die Villa Papyri dem Tageslicht auszusetzen, bevor wir garantieren können, daß wir sie für die Zukunft retten können." Doch bei dieser Kontroverse geht es um Prioritäten. Wallace-Hadrill beklagt die traurigen Folgen der bisherigen Ausgrabungen: "Restaurierte Dächer fallen ein, auf Mosaikböden liegen zerbrochene Fliesen, das kostbare verkohlte Holz zerfällt immer mehr, auf Marmorböden und an den vergipsten Wänden bilden sich bei Regen Lachen, die Fresken verblassen und bersten schließlich." Er fügt hinzu: "Würde die antike Stadt als Folge erneuter Ausgrabungen zum zweiten Mal sterben, wäre es besser, sie unter der harten Schicht weiter schlafen zu lassen."

Fowler kontert: "Solange die Möglichkeit besteht, die Bibliothek in den inzwischen identifizierten Untergeschossen zu finden - und niemand bestreitet, daß dies aussichtsreich ist - sind wir es der Welt schuldig zu graben." Da der Großteil der Villa unter der modernen Stadt Ercolano liegt, hält Fowler ein Untertunneln für notwendig. Das Ergebnis einer Machbarkeitsstudie wird noch dieses Jahr erwartet.