Millenium-Rätsel: Fast 100 Jahre knobelten Mathematiker an der Lösung. Einem Russen gelang der Beweis. Das Preisgeld, eine Million Dollar, interessiert ihn offenbar nicht.

Ob drahtlose Telegraphie, Himmelsmechanik oder Elektrodynamik - der französische Gelehrte Henri Poincare schrieb Mathematik-Geschichte. Bereits sieben Jahre bevor Albert Einstein 1905 seine Überlegungen zur Zeit in der speziellen Relativitätstheorie formulierte, äußerte er ähnliche Ideen. "Wäre er älter geworden, hätte er auch die allgemeine Relativitätstheorie, die Einstein 1917 zu Papier brachte, schreiben können", sagt der Hamburger Mathematiker Prof. Ulrich Eckhardt. Doch 1912, im Alter von 58 Jahren, verstarb Poincare. Sein Vermächtnis: viele Erkenntnisse und eines der größten Rätsel der Mathematik, die Poincaresche Vermutung.

Fast 100 Jahre trotzte sie allen Lösungsversuchen. Dann tauchte im Internet ein Artikel des russischen Mathematikers Grigory (Grisha) Perelman auf - der Beweis der 1904 formulierten Vermutung. Dieser Beweis, den er im März 2003 erweiterte, hielt bislang allen Prüfungen stand. Begeistert hörten Fachkundige mehrere Tage seinen drei- bis sechsstündigen Vorträgen zu, die er Ende April 2003 beispielsweise an der Stony Brook University in New York und danach am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge hielt.

Darum geht es: Poincares Vermutung bezieht sich auf Gegenstände, bei denen es nicht auf die genaue Form ankommt. Das klingt komisch und ist es auch. In dieser ziemlich ausgefallenen Welt ist eine Kaffeetasse mit Henkel nämlich eigentlich dasselbe ist wie ein Autoreifen. "Man kann eine Tasse aus Knete langsam so verformen, daß ein Autoreifen entsteht, ohne daß man ein Loch bohren oder etwas ankleben muß", erläutert Prof. Eckhardt. "Hingegen sind Kugel und Tasse unterschiedliche Dinge. Denn um eine Kugel aus Wachs in eine Tasse zu verformen, muß man Löcher bohren."

Mit derartigen Gedankenexperimenten befaßt sich die Topologie, wie dieser Zweig der Mathematik heißt. In ihr sind zwei Gegenstände dann gleich, wenn sie durch Verformung auseinander hervorgehen können - Länge, Breite oder Höhe sind völlig nebensächlich. "Die Forschungen in diesem Gebiet sind zunächst eine faszinierende Spielerei", sagt Prof. Eckhardt. "Sie könnte allerdings geniale Möglichkeiten eröffnen, Formen von Objekten, die man versenden möchte, so zu codieren, daß sie beim Versand erhalten bleiben. Ein Empfänger könnte dann beispielsweise erkennen, ob das codierte Bild ein herzförmiges Objekt enthält."

Statt Kugeln, Autoreifen oder Tassen kann man auch Oberflächen auf diese Art und Weise betrachten. Genau das tat Poincare, und er entdeckte vieles und bewies es - eben bis auf seine Vermutung. "Poincare vermutete Folgendes", erläutert Prof. Eckhardt: "Wenn man bei einer dreidimensionalen Fläche in einem vierdimensionalen Raum eine Schlinge bis auf einen Punkt zusammenziehen kann, dann muß es sich um ein Gebilde handeln, das einer Kugel entspricht. Das klingt logisch. Denn wenn wir um den Bauch einer Kugel ein Seil legen und es zusammenziehen, wird es abrutschen und sich auf einen Punkt zusammenziehen." Doch was so logisch klingt, ist schwer zu beweisen. Der geniale russische Mathematiker Grisha Perelman nutzte die ganze Klaviatur mathematischer Techniken, verknüpfte sie auf neue Art und verfeinerte sie, um diese Nuß zu knacken. Die seitenlangen Mitschriften seiner Vorträge, die wie seine Arbeiten im Internet zu finden sind, erzählen diese unglaublichen Gedankenspiele.

Eigentlich stünde Perelman für seinen Beweis jetzt eine Million Dollar zu. Dieses Preisgeld hat das Clay Institute of Mathematics, eine private Stiftung zur Förderung der Mathematik, 2000 für die Mathematiker ausgesetzt, die eines der sieben schwierigen Mathe-Rätsel lösen. Zu diesen "Millennium-Problemen" zählt die Poincare-Vermutung. Doch offenbar interessiert sich der geniale Denker gar nicht für das Geld. Denn um es zu bekommen, muß der Beweis erstens zwei Jahre allen Prüfungen standhalten - das hat er. Zweitens hätte Perelman seine Arbeiten in einer Fachzeitschrift veröffentlichen müssen. Doch er stellte sie, wie erwähnt, ins Internet. "Aber eine bessere Prüfung als diese kann es gar nicht geben. Denn er publizierte die Artikel auf einer Internet-Seite, auf der Physiker und Mathematiker ihre noch nicht begutachteten Texte veröffentlichen und somit kann sich weltweit jeder an der Überprüfung beteiligen", urteilt Prof. Eckhardt und fügt hinzu: Perelman sei eben ein ungewöhnlicher Zeitgenosse. So kehrte er 1994 den USA, in die er 1992 als Postdoc eingereist war, den Rücken, obwohl er Angebote von berühmten mathematischen Instituten hatte. Er zog sich an das Steklov-Institut, das Teil der russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg ist, zurück. "In der Ruhe dort kann man sehr schön arbeiten", räumt Prof. Eckhardt ein, der mehrfach Kollegen in Petersburg besuchte.

So sah das offenbar der "etwas menschenscheue Perelman" (Eckhardt). Außer einigen Kritiken an Internet-Publikationen von Kollegen schwieg er fast acht Jahre lang - bis zum November 2002. Per E-Mail informierte er einige Kollegen darüber, daß er einen Artikel im Internet veröffentlicht habe. Es war der Beweis, der nahezu 100 Jahre nicht gelungen war.

Doch das ist längst nicht alles. "Über den Beweis hinaus", so urteilt der Hamburger Mathematiker, "könnten Perelmans neue Methoden auch die Physik befruchten. Denn er liefert neue Werkzeuge, um die Stringtheorie und Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie besser zu verstehen." Grisha Perelman öffnet mit seinem Beweis somit Türen zu neuen Dimensionen, liefert vielleicht ein Puzzlestück für eine Weltformel, von der nicht nur Einstein träumte.

Informationen im Internet :

Vorträge: www.math.lsa.umich.edu/research/ricciflow/perelman.html

Artikel: www.arxiv.org