In der Schweiz, Japan oder den USA ersetzt ein Natur-Süßstoff den kalorienreichen Zucker. Jetzt hoffen deutsche Experten, dass er bald auch hierzulande auf den Tisch kommt.

Honigkraut ist mit das Süßeste, was die Natur zu bieten hat. Der Korbblütler aus dem Dreiländereck Argentinien, Brasilien und Paraguay liefert bis zu 300-mal mehr Süße als Zucker, hat praktisch keine Kalorien und nagt nicht an den Zähnen. Also ideal für alle, die mit Pfunden zu kämpfen haben oder unter Diabetes leiden. "Angesichts der rasanten Zunahme dieser Volkskrankheiten muss man alles nutzen, um ihnen zu begegnen. Und wie der Ernährungsbericht 2008 der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zeigt, steigt der Zuckerkonsum deutlich an. 1950 verzehrte jeder Deutsche im Jahr nur 25 Kilogramm, heute sind es schon 36 Kilogramm Zucker", sagt die Hamburger Ernährungswissenschaftlerin Dr. Birgit-Christiane Zyriax vom Zentrum für Klinische Studien.

120 Gramm Zucker verputzt jeder Deutsche im Schnitt täglich. Um diese Menge zu ersetzen, braucht man nur etwa 400 Milligramm Stevia-Pulver, in Getränken 1,2 Gramm. Und das muss nicht zu Lasten der Gesundheit gehen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entschied im Juli vergangenen Jahres, dass der Verzehr des süßen Inhaltsstoffs von Stevia, genannt Steviosid, unbedenklich ist, sofern eine Grenze von bis zu zehn Milligramm Steviosid pro Kilogramm Körpergewicht nicht überschritten wird. "Die täglich erlaubte Menge beträgt also 600 Milligramm", sagt Stevia-Experte Dr. Udo Kienle von der Uni Hohenheim, der die anspruchslose Pflanze seit mehr als 20 Jahren erforscht. Mit der Menge könnte man den durchschnittlichen Zuckerkonsum befriedigen. Ein Traum für alle, die ihr Gewicht unter Kontrolle halten wollen, ohne auf Süßes völlig zu verzichten. Doch bis auf Weiteres wird es ein Traum bleiben.

Denn wer sich auf die Suche nach dem neuen Süßstoff macht, wird schnell enttäuscht sein. Es gibt ihn nicht zu kaufen. Seit 2000 ist in der Europäischen Union der Vertrieb der Honigkraut-Produkte, die in den Herkunftsländern Paraguay und Brasilien seit Jahrhunderten konsumiert werden, verboten. Der Grund: 1997 trat die "EU-Verordnung über neuartige Lebensmittel" in Kraft, und die krautige Pflanze, die bis dahin in einigen Bioläden oder Reformhäusern gehandelt wurde, landete auf dem Index, nachdem die Zulassung in Brüssel als "Novel Food" beantragt worden war. Auch fehlt eine Zulassung von Steviosid als Süßstoff, erläutert Kienle. Die aufwendigen Zulassungsverfahren seien für die Hersteller nicht besonders lukrativ. "Stevia ist ein Naturprodukt, auf das man kein Patent erheben kann. Stevia kann jeder anbauen und daraus Extrakte herstellen. Wer hierzulande plant, Geld in langwierige Zulassungsverfahren zu investieren, fragt sich eben, wie er sein Geld wieder zurückholt."

Dabei ist der Natur-Süßstoff seit Mitte der 1970er-Jahre in Japan im Handel, dort steckt er in Süßigkeiten, Kuchen, Konfitüren, Soft- und Sportlerdrinks, Fischpasteten, Gewürzmischungen für Snacks und Milchprodukte. Auch in Korea, Malaysia, Brasilien, Mexiko oder Israel werden Steviaprodukte verkauft, in den USA werden zwei unterschiedliche Stevia-Süßstoffe produziert. Und auch in der Schweiz darf Stevia seit Neuesten auf den Tisch kommen. Als "interessanten Schachzug" der Eidgenossen wertet Udo Kienle diese Entscheidung. "Die Schweiz bietet nun ein hervorragendes Experimentierfeld für international operierende Lebensmittelkonzerne wie Coca-Cola, Nestle und Pepsi-Cola ab, um Marketingstrategien und Verbraucherakzeptanz zu testen." In der Tat haben Coca-Cola und Pepsi bereits angekündigt, mit Stevia gesüßte Getränke auf den Markt bringen zu wollen.

"Zwar wird die Zulassung in der EU noch einige Zeit dauern, aber Stevia kommt", dessen sind sich die Forscher der Uni Hohenheim sicher. "Wenn man bedenkt, dass drei Viertel der Männer und die Hälfte der Frauen jenseits des 50. Lebensjahres zu viel auf die Waage bringen, dass Übergewicht ein gewichtiger Grund für Bluthochdruck ist, dass mindestens zehn Prozent der Bevölkerung unter Diabetes leiden und dass zudem jeder zweite Mann und jede dritte Frau jenseits des 55. Lebensjahres Probleme mit dem Zuckerstoffwechsel haben, könnte Stevia als Natur-Süßstoff dazu beitragen, diese dramatischen Entwicklungen zu stoppen", urteilt Dr. Birgit-Christiane Zyriax.

Agrartechnisch steht einem Anbau jedenfalls nichts mehr im Weg. Denn die Technik, mit der das Kraut maschinell geerntet werden kann, haben die Hohenheimer Forscher mit EU-Geldern schon längst entwickelt. Brüssel muss also nur noch seine Zustimmung, um die seit mehreren Jahren gerungen wird, geben. Als Aromastoff für Tiernahrung ist der Natur-Süßstoff in Europa sogar schon seit 2005 zugelassen.