Berlin. Vor 30 Jahren wurde das erste künstliche Organ in Deutschland implantiert. Heute führen Patienten damit ein fast normales Leben.

Wieso ich? Immer wieder hat sich Stefan Sichelschmidt vor sechseinhalb Jahren diese Frage gestellt. Damals, als er nicht einmal mehr eine Gabel halten konnte, als er knapp dem Tod entgangen war. Heute ist dem 51-Jährigen diese depressive Stimmung nicht mehr anzusehen. Sichelschmidt ist ein aktiver Mensch, er arbeitet, treibt Sport, ist ein engagierter Familienvater. Auf den ersten Blick anders ist nur der drei Kilogramm schwere Rucksack, den er immer bei sich trägt.

Ohne diesen Rucksack könnte Stefan Sichelschmidt nicht leben, „es ist mein kleines Kernkraftwerk“, sagt er lachend. Im Rucksack sind die Steuereinheit und zwei Akkus. Sie sichern über ein Kabel die Stromzufuhr zu einer Pumpe, die an seiner linken Herzkammer angeschlossen und mit der Hauptschlagader verbunden ist – sein Kunstherz. Wenige Zentimeter ist die Pumpe groß, die Sichelschmidt in seinem Körper trägt und die etwa zehn Liter Blut pro Minute befördert. Nicht wie bei einem natürlichen Herzen stoßweise, sondern kontinuierlich wie bei einer Wasserpumpe.

2009 wurde dem Mitarbeiter im Auswärtigen Amt am Deutschen Herzzentrum Berlin (DHZB) das erste Kunstherz von Professor Roland Hetzer implantiert. Mehr als 3000 solcher Systeme wurden dort bislang eingesetzt. Das Zentrum betreibt damit nach eigenen Angaben das größte Kunstherz-Programm der Welt.

Große Angst, dass etwas passieren könnte

Vor fast genau 30 Jahren, am 7. März 1986, führte Chirurg Emil Bücherl am damaligen Universitätsklinikum Charlottenburg die erste Kunstherz-Implantation in Deutschland durch. Das DHZB, ebenfalls 1986 gegründet, setzte die Kunstherz-Tradition ab 1987 fort. In den Pionierjahren waren die Antriebe noch kühlschrankgroß. Ein Leben, wie es Sichelschmidt heute führt, wäre mit den alten Apparaten nicht möglich gewesen.

Aber auch heute nehmen nur wenige Menschen mit Kunstherz aktiv am Leben teil. Kaum einer arbeitet, kaum einer treibt Sport. „Die Angst ist zu groß, dass etwas passieren könnte“, sagt Sichelschmidt. Doch gerade diese Angst hält er für gefährlich, daher hat er nach seiner Operation schnell angefangen, sich für andere Betroffene zu engagieren. Er hält Vorträge und versucht Patienten, die zum Beispiel vor der Operation stehen, Mut zu machen.

Er selbst hätte sich 2009 solche Gespräche gewünscht. Er musste aus eigener Kraft wieder ins Leben zurückfinden, auch mit Hilfe seiner Familie, seiner Freunde und der Therapeuten. Und vielleicht hat ihm noch etwas geholfen: „Als es ganz kritisch wurde, kann ich mich an nichts erinnern“, erzählt er. Sein Hirn wurde damals offenbar gar nicht mehr richtig versorgt. Dass er damals in Lebensgefahr schwebte, wurde ihm erst hinterher bewusst. Es gab ja auch vorher überhaupt keine Anzeichen.

Sichelschmidt kämpfte sich zurück ins Leben

Ende 2008 muss Sichelschmidt zum medizinischen Check. Nach Stationen in Wien, Paraguay, Senegal, Nicaragua und Südkorea stand wieder eine Versetzung an – nach Los Angeles. Der Check war Routine. Doch dann der Schock: Eine Herzklappe schließe nicht richtig. Anfang 2009 ließ er sich in Hamburg operieren, die Herzklappe wurde rekonstruiert. Die Familie hielt an den beruflichen Plänen fest, kündigte die Wohnung in Berlin, im Sommer sollte es losgehen. Alles schien in Ordnung, war es aber nicht. Seine Frau flog nach L.A., um eine Wohnung zu suchen, Sichelschmidt blieb mit der zweijährigen Tochter in Berlin. Als Sichelschmidts Frau wieder in Berlin landete, hatte er schon zwei Herzstillstände hinter sich und lag im Herzzentrum. Erst zwei Tage später konnte er operiert werden, weil ein Organversagen drohte. Danach lag Stefan Sichelschmidt wochenlang im Koma.

Modell mit Kunstherzsystem
Modell mit Kunstherzsystem © dpa | Julian Stratenschulte

Doch es passt nicht zu Sichelschmidts Wesen aufzugeben. Er kämpfte sich zurück ins Leben und haderte nur manchmal damit, wie lange alles dauerte. Zwei Monate, nachdem er entlassen war, konnte er zum ersten Mal seine Tochter wieder aus der Kita abholen. Der 200-Meter-Weg kam ihm wie eine Weltreise vor. Und er musste sich daran gewöhnen, sich helfen zu lassen, da er sich nicht gut bücken kann.

Sport aber spielt weiterhin eine wichtige Rolle in seinem Leben. Vor allem Skaten und Radfahren, das Laufen geht wegen der Erschütterung nicht mehr. 2014 wollte er als Skater sogar beim Marathon antreten, aber der Veranstalter hatte Bedenken. 2015 hatte er es wieder versucht. Da war sein Kunstherz bereits sechs Jahre alt. Oft bleiben die Pumpen kürzer im Körper.

Denn die „Kreislaufunterstützungssysteme“, wie sie korrekt heißen, dienen vielen Patienten nur als Übergangslösung, bis sie ein passendes Spenderorgan bekommen. Die Wartezeit ist lang, ein bis eineinhalb Jahre. Zu lang für viele schwache Herzen, eine Zwischenlösung muss dann her. Der Bedarf an Spenderorganen wächst, weil durch die Zunahme der Lebenserwartung immer mehr Menschen an Herzschwäche leiden. Die Unterstützungspumpe wird so zwangsläufig zur Dauerlösung, sagt Professor Volkmar Falk, Ärztlicher Direktor des DHZB.

Mit der Restleistung schafft es derPatient noch ins Krankenhaus

Heute implantieren die Spezialisten weit mehr Kunstherzen als Spenderorgane. Nur selten entnehmen die Chirurgen dabei das Herz komplett, denn es hat meist noch eine nützliche Restpumpleistung. Vor allem: „Sollte die Unterstützungspumpe einmal ausfallen, schafft es der Patient mit der Restleistung noch ins Krankenhaus“, erklärt Falk. Und manch Betroffener benötigt letztlich gar kein Spenderherz mehr, weil sich das eigene Organ durch die maschinelle Entlastung erholt.

Bei Stefan Sichelschmidt wird das nicht passieren. Er will zurzeit aber auch keine Transplantation. „Die Risiken sind hoch und es geht mir doch gut“, sagt er. Wieder gut. Im Frühsommer 2015 hatte er einen Zusammenbruch. Gerade wollte er sich auf den Berlin-Marathon vorbereiten. „Doch dann wurde festgestellt, dass sich der Schlauch an der Pumpe verschoben hatte“, sagt er. Das Richten sollte keine große Sache werden. Tatsächlich wurde daraus eine Neun-Stunden-OP, weil der Schlauch ersetzt werden musste. Dann kam es zu Komplikationen: Nierenversagen und Koma, verursacht durch eine Thrombose. Die letzte Rettung: ein neues Kunstherz.

An die lebensbedrohlichen Tage 2015 erinnert sich Stefan Sichelschmidt wie beim ersten Mal kaum. Aber im Gegensatz zu 2009 weiß er inzwischen wie labil das System in seinem Körper ist. An einen Marathon denkt er heute nicht mehr, bei einem Drittelmarathon im April und beim Velothon im Juni will er aber schon wieder dabei sein.