Florian Hirsch leidet an der Entwicklungsstörung Asperger-Syndrom. Er will sein Spezialinteresse zum Beruf machen. Seit einer Projektarbeit in der Schule ist der 20-Jährige von den Bienen fasziniert.

Celle. Aufmerksam schenkt er seinen Gästen aus Hamburg Mineralwasser ein, erzählt ihnen von seiner Leidenschaft: den Umgang mit Bienen und allgemein die Imkerei. Florian Hirsch, 20, spricht leise, etwas monoton und scheinbar emotionslos über sein Spezialgebiet. Der gebürtige Rügener, der in Hamburg aufwuchs, lebt mit dem Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus. Dennoch kann er seine Ausbildung zum Imker gut meistern. Er steht im dritten Lehrjahr, und sein Ausbilder Stefan Lembke vom Institut für Bienenkunde in Celle hat keine Zweifel, dass sein Schüler die Prüfung schaffen wird. Dieser weiß um seine Defizite und kann mit ihnen umgehen.

Ausgeprägte Spezialinteressen, die fokussiert verfolgt werden, sind typisch für Menschen mit der Entwicklungsstörung Asperger-Syndrom. Florian Hirsch hat als Sechstklässler noch auf Rügen im Rahmen einer Projektarbeit eine Imkerei besucht – und ist seitdem von Bienen fasziniert. „Ihr Sozialverhalten ist spannend. Sie haben verschiedene Jobs, die auch mal getauscht werden können, etwa Saubermachen, Larvenpflege, Nektar und Pollensammeln“, erzählt er. Auf Rügen verbrachte er jedes Wochenende in der Bio-Imkerei, bis vor Kurzem betreute er eigene Bienenstöcke. Von denen hat er sich in der Ausbildung wieder getrennt: „Wenn man den ganzen Tag Imkereiarbeiten macht und sich nach Feierabend noch um die eigenen Bienen kümmern muss, dann wird’s einfach zu viel“, erzählt er.

Seine Verlässlichkeit und sein Wissen sind Florian‘s Pluspunkte

In der Arbeit mit den Bienen geht er auf, auch wenn sie manchmal schmerzhaft ist – „ich kann gar nicht sagen, wie oft sie mich schon gestochen haben. Bei mir haben sich Antikörper gebildet, dadurch schwellen die Stiche immer weniger an. Aber das kann auch wieder umschlagen“, erläutert Hirsch im Beisein des Ausbildungsleiters. Stefan Lembke verfolgt die Ausführungen wohlwollend, streut ab und an eine Prüfungsfrage ein („Wie viel wiegen 10.000 Bienen?“ Hirsch: „So ungefähr ein Kilogramm.“ Lembke: „Nicht ungefähr, sondern genau ein Kilogramm, richtig!“).

Lembke lobt die Verlässlichkeit seines Schützlings und sein umfassendes Wissen: „Er weiß genau, was zu tun ist, welche Aufgaben er hat. Das können andere Auszubildende im dritten Lehrjahr nicht. Ich merke praktisch nichts vom Asperger-Syndrom.“ Florian Hirsch benennt freimütig seine Probleme: „Wenn ich ganz viele Aufgaben habe, dann komme ich mit der Zeitplanung durcheinander.“ Ungeliebte Arbeiten wie das Schreiben von Berichtsheften bleiben dann auf der Strecke, selbst wenn sie dringend abgegeben werden müssten.

„Herr Hirsch hat Schwierigkeiten, Prioritäten zu setzen“, erläutert Michael-Ernie Schadow. Er arbeitet für die Firma Salo mit Hauptsitz in Hamburg, die Menschen mit neurologischen, psychischen oder autistischen Beeinträchtigungen hilft, ins Berufsleben einzusteigen oder zurückzukehren. Florian Hirsch gehört zu Schadows Klienten. Jeden Montag kommt der Sozialpädagoge und Rehabilitationscoach aus Hannover ins Bienen-Institut und begleitet den Jugendlichen auf seinem Ausbildungsweg. Die Berichtshefte sind ein wunder Punkt. Ein anderer ist die leichte Ablenkbarkeit seines Klienten. Schadow: „Er ist thematisch häufig mal weg. Aber im Großen und Ganzen ist der Ausbildungsverlauf gut, viel besser, als wir alle dachten. Dazu gehört auch seine Selbstständigkeit.“

Schadow bezeichnet die Kritikpunkte als Luxusproblem eines Asperger-Betroffenen. Dass der Jugendliche sich so gut integriert hat, liege vor allem am gut strukturierten Umfeld, so Schadow. Zusammen mit den sieben anderen Azubis lebt Hirsch in einer Wohngemeinschaft direkt auf dem idyllischen Institutsgelände am Rande der Altstadt. Im Sommer beginnen die Arbeitstage oft schon am frühen Morgen. Dann gilt es, den Bienen einen Besuch abzustatten. Meister und Azubis müssen bei mehr als 500 Bienenstöcken nach dem Rechten sehen: Geht es den Bienen gut, oder gibt es Anzeichen von Parasitenbefall oder Krankheiten? Wie läuft die Nektarproduktion? Die Visite eines Stockes findet im Schnitt alle zwei Wochen statt und fordert Einsatz: Die Celler Bienenvölker sind im Sommer großflächig im Land verteilt, von der Insel Neuwerk im Norden bis zum Ort Torfhaus im Harz.

Sport macht dem jungen Mann besonders viel Spaß

Die Geborgenheit, die das Institut mit seinem Wohnheim den Auszubildenden gibt, und der relativ kleine Kreis von Menschen, mit denen Florian Hirsch täglich Kontakt hat, seien sehr förderlich, so Schadow. Natürlich macht nicht jede Arbeit Spaß. Zu den ungeliebten Aufgaben gehört das Auskratzen von aussortierten Waben und die Reinigung der geleerten Rähmchen; im Herbst kommen da schnell mehrere Tausend Wabenrahmen zusammen. Bei monotonen Arbeiten verliere Hirsch schnell die Lust, sagt Schadow. Dies sei ein typisches Merkmal des Asperger-Syndroms. Hirsch sieht das anders: „Jeder in meinem Alter hat mal die Phase, dass man null Bock mehr hat. Das hört bis Anfang 30 auf.“ Das Abarbeiten von Aufgaben gebe Autisten eine stützende Struktur, sagt Schadow, mit Freizeit wüssten sie oft nichts anzufangen. „Ich betreue Arbeitnehmer, die zum Jahresende ihren Urlaub noch nicht genommen haben, weil sie einfach keinen Urlaub wollen.“

„Ich brauche keinen Urlaub“, sagt auch Hirsch. Doch gerade hatte er eine Woche Auszeit; seine Eltern haben die Freizeitgestaltung für ihn übernommen. Hirsch besuchte mit seinem Vater Amsterdam und London. Er habe es genossen, per Schiff durch die Amsterdamer Kanäle zu schippern, erzählt er. Dagegen sei der Besuch des Londoner Konsumtempels Harrods „total schrecklich“ gewesen – „ich war froh, als ich da raus war“. Er sehe wirtschaftliches Wachstum generell kritisch, versuche so wenig wie möglich zu konsumieren. „Computer kaufe ich nur gebraucht. Es ist tragisch, dass dafür Schwermetalle in Afrika geplündert werden.“

„Am Montag kam er dann zu mir und bat um einen Tag Urlaub, damit er sich von dem Urlaub erholen kann“, sagt Ausbilder Lembke schmunzelnd. Der junge Mann lächelt leicht verlegen: „Ich habe keine Angst vor der Freizeit. Immerhin habe ich am Montag zwei Berichte nachgeholt. Jetzt fehlt nur noch einer aus September.“ Er sagt auch: „Zeitplanung ist mein größtes Problem. Manchmal nehme ich mir vor, Berichte zu schreiben, und dann repariere ich doch mein Fahrrad.“ Wer kennt solche Situationen nicht? Fahrrad fahren mache ihm viel Spaß, erzählt der Autist, überhaupt Sport. Er jogge und spiele Badminton. „Nur Mannschaftssport mag ich nicht so gern.“

Ein blinder Fleck ist bei vielen Autisten die Kommunikation. „Manchen Arbeitnehmern mit dieser Störung ist die Mittagspause ein Graus. Sie fürchten sich davor, mit ihren Kollegen in die Kantine zu gehen, haben Angst, sie misszuverstehen. Die mangelnde Fähigkeit, nonverbale Signale bei anderen Personen intuitiv zu erkennen, eint Asperger-Autisten. Viele können keine Mimik und Gesten lesen, verstehen weder Humor noch Ironie. Schadow: „Sie nehmen Sprichwörter wie ,jemandem einen Bären aufbinden‘ wörtlich. Und müssen solche Redewendungen und deren wahre Bedeutung auswendig lernen, um im Alltag zurechtzukommen.“ Sie hören anderen Menschen nicht zu, unterbrechen Gespräche mit Äußerungen, die nichts mit dem gerade behandelten Thema zu tun haben, sprechen zum Beispiel über ihre Modelleisenbahn.

Die Frage, ob er eine „flotte Biene“ kennt, findet Hirsch zu privat

Florian Hirsch interagiert mit seinen Gesprächspartnern, ist von dem oben beschriebenen Zustand weit entfernt. Aber auch ihm sind viele fremde Menschen nur dann recht, wenn er mit ihnen nicht kommunizieren muss, wie auf einem Punk-Konzert im benachbarten Winsen/Aller, auf dem er im Sommer ein Wochenende verbrachte. Dagegen seien Partys nichts für ihn – „man lernt dort niemanden kennen. In Kneipen auch nicht.“

Die Frühförderung habe seinem Klienten sehr geholfen, sagt Schadow. „Viele Autisten können sich nicht vorstellen, dass andere Menschen anders denken als sie selbst.“ Das erschwere den Umgang mit anderen Menschen. „Aber auch Nichtautisten können sich nicht vorstellen, wie Autisten denken“, kontert Hirsch. „Es gibt kaum Autisten, die sich durch ihren Autismus beeinträchtigt fühlen, sich als Behinderte fühlen“, meint er und fügt hinzu: „,Behinderte‘ ist sowieso ein blödes Wort.“

Die Frage, ob er schon einmal eine „flotte Biene“ kennengelernt habe, versteht er zwar richtig, aber sie ist ihm viel zu privat. Darüber möchte er nicht sprechen, sagt er, verrät dann aber doch, dass er „noch nie eine richtige Beziehung hatte. Nur so halbe Sachen. Jetzt habe ich erst einmal aufgegeben und lasse es auf mich zukommen.“

Am meisten am Herzen liegt ihm, seine Ausbildung bis zum Sommer nächsten Jahres erfolgreich zu Ende zu bringen. Allerdings wird er zur Prüfung nur zugelassen, wenn die Berichtshefte vollständig sind. Auch diese Herausforderung sei zu meistern, meint Hirsch: „Ich kann Berichtshefte schreiben. Ich muss es nur machen.“ Er hofft, nach der Ausbildung vielleicht noch ein Jahr im Bienen-Institut arbeiten zu können. Aber langfristig wolle er nicht in Celle bleiben, sondern lieber in einer größeren Stadt wie Hamburg leben.