„Das war bloß Glück!“: Manche Studierende halten die eigene Leistung für erschlichen. Was bescheiden klingt, kann krankhafte Züge annehmen.

Berlin. Jetzt im Rückblick würde Moritz Löwenstein (Name geändert) sagen, dass es mit der Zwischenprüfung losging. „Von da an hatte ich einen komischen Maßstab an mich selbst“, erzählt er. Er war damals für Mathe, Philosophie und Literaturwissenschaft eingeschrieben. In der Prüfung lief es gut. In Philosophie bekam er eine 1,3, in Mathe, das ihm nicht lag, überraschte er sich mit einer 1,0. Im Mittelhochdeutschen war er der Beste seines Jahrgangs. „Dabei hatte ich gar nicht das Gefühl, besonders viel zu wissen“, erinnert er sich. „Ich hatte einfach Glück.“

Hatte er bis dahin in Seminaren gerne und lebhaft diskutiert, zog er sich nun zurück. „Soll ich das wirklich sagen, oder ist das völlig idiotisch?“ Diese Frage schlich sich nun häufiger in seinen Kopf. Immerhin war er der, den der Professor für die Studienstiftung des deutschen Volkes wegen seiner guten Zwischenprüfung vorgeschlagen hatte. „Ich hatte das Gefühl, einen Standard halten zu müssen, wenn ich nicht entlarvt werden will“, sagt er.

Obwohl seine Unikarriere bis dahin optimal lief, fühlte Löwenstein sich immer stärker unter Druck. Impostor-Syndrom – zu Deutsch Hochstapler-Syndrom – nennen Psychologen die Gefühlslage, in die er geriet. Den Begriff haben die amerikanischen Psychologen Pauline R. Clance und Suzanne A. Imes in den 70er-Jahren eingeführt. Damit sind Menschen gemeint, die große Leistungen erbringen, aber an ihren Fähigkeiten zweifeln. Ihren Erfolg schieben sie externen Faktoren zu – zum Beispiel dem Zufall oder eben dem Glück, erklärt Prof. Birgit Spinath. Sie unterrichtet Psychologie an der Universität Heidelberg und forscht zum Thema Impostor-Syndrom.

Clance und Imes hatten damals erfolgreiche, berufstätige Frauen befragt. Dabei fiel ihnen auf, dass viele der Befragten ihre Leistungen nicht für überdurchschnittlich gut hielten. Vielmehr glaubten viele, dass sie Hochstaplerinnen sind und Entscheider ihre Fähigkeiten überschätzten. Die Folge: Die von dem Phänomen Betroffenen standen immens unter Druck. Sie lebten ständig in der Angst, dass herauskommt, dass sie nur Glück hatten, erzählt Prof. Spinath. Als Folge bemühen sich viele, noch bessere Leistungen zu erbringen. Sie arbeiten bis zur Erschöpfung – sind im schlimmsten Fall irgendwann ängstlich und depressiv.

Auch wenn es keine Zahlen über den Verbreitungsgrad an der Universität gibt: „Gerade bei Studierenden tritt das Phänomen häufig auf“, ist sich Birgit Spinath sicher. Der Beginn des Studiums sei für viele mit einer großen Unsicherheit verbunden. Die Kommilitonen sind neu – vielen ist nicht klar, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten einordnen sollen. Gerade die Leistungsstarken mit einem geringen Selbstwertgefühl neigen dann zu Zweifeln, ob sie die guten Noten verdient haben.

Bei einer starken Ausprägung des Hochstapler-Syndroms können die Folgen verheerend sein: „Das kann ähnlich belastend werden wie eine psychische Erkrankung, wie eine Angststörung oder Burn-out“, sagt die Diplom-Pädagogin Monika Klinkhammer. Im schlimmsten Fall prägt das Hochstapler-Syndrom das ganze Leben, und Betroffene werden depressiv oder sind irgendwann sogar suizidgefährdet.

Was sind noch Selbstzweifel, und ab wann ist es das Hochstapler-Syndrom?

Student Löwenstein steigerte die Ansprüche an sich selbst nach der Zwischenprüfung ins Unermessliche. „Ich hatte ständig diesen inneren Zensor im Kopf, der sagt ‚Das ist nicht gut genug‘“, erzählt er. Er fing Hausarbeiten an, sprach Gliederung und Fragestellung mit dem Professor ab, recherchierte und schrieb in der Bibliothek. Am Ende gab er die Arbeiten nie ab. „Ich habe einen Aufsatz nach dem nächsten gelesen.“ Irgendwann fand er das Thema so komplex, dass er seine Arbeit auf keinen Fall abgeben wollte.

Doch was sind noch normale Selbstzweifel, und ab wann redet man vom Hochstapler-Syndrom? Kritisch wird es immer dann, wenn Studenten ihre Leistung systematisch unterschätzen und sich gleichzeitig unverhältnismäßig große Sorgen machen etwa in Prüfungen nicht zu genügen, sagt Pädagogin Klinkhammer. Wichtig sei dann zunächst einmal, das eigene, verkehrte Denkmuster zu erkennen und zu hinterfragen. Studenten könnten überlegen: „Wie wahrscheinlich ist es, dass es Glück war, wenn ich mehrere Erfolge hatte?“, rät Prof. Birgit Spinath.

Gleichzeitig sollten sich Betroffene Rückmeldung von Freunden einholen, die ihnen wohlgesinnt sind. „Häufig haben die sich auch schon einmal als Hochstapler gefühlt“, erzählt Klinkhammer. Wichtig sei zu sehen, dass auch andere in neue Rollen – etwa die als Elite-Student – erst einmal hineinwachsen müssen. Bis zu einem bestimmten Grad sei es völlig normal, eine Rolle zu spielen und wirklich übergangsweise etwas hochzustapeln.

Hilfreich für Betroffene ist auch, ein Erfolgstagebuch zu führen, rät Klinkhammer. Dabei notieren Studenten regelmäßig, wenn sie eine positive Rückmeldung bekommen und eine besondere Leistung erbracht haben. Sind die Zweifel wieder einmal übermächtig, hilft ihnen ein Blick in das Buch. Kommen Studierende aus den negativen Gedanken gar nicht mehr heraus, sollten sie fachliche Beratung in Anspruch nehmen und etwa die psychologische Beratungsstelle der Universität aufsuchen.

So hat es auch Löwenstein gemacht. Als er die x-te Hausarbeit nicht abgab, nahmen ihn Freunde zur Seite. Er war zu dem Zeitpunkt mit dem Studium längst in Verzug. Sie redeten auf ihn ein, eine Therapie zu machen. „Fühlen Sie sich manchmal als Hochstapler?“, hatte ihn seine Therapeutin gefragt. Er ist froh, dass er für sein Problem nun ein Wort hat und zu wissen, dass auch noch andere davon betroffen sind.