Im Hamburger Seewetteramt lagern Aufzeichnungen aus der Kolonialzeit – die aus Tsingtau wurden jetzt ihrem Ursprungsort zurückgegeben.

Hamburg. Sie reisten in zwei jeweils zehn Kilo schweren Koffern als Handgepäck von Hamburg nach Peking und weiter ins südöstlich gelegene Qingdao am Chinesischen Meer: Originaldokumente von historischen Wetterdaten aus den Jahren 1898 bis 1914, aufgezeichnet von Beamten der ehemaligen deutschen Kolonie Tsingtau (heute Qingdao). 100 Jahre nachdem Tsingtau in japanische Hände gefallen war, hat Gudrun Rosenhagen vom Seewetteramt Hamburg die Originaldokumente feierlich übergeben. „Es war vor allem ein emotionaler Akt, denn ein Großteil der Daten liegt den chinesischen Partnern bereits in digitaler Form vor“, sagt Rosenhagen. Die Meteorologin ist gerade erst nach Hamburg zurückgekehrt und noch voller Eindrücke von der chinesischen Gastfreundschaft und der Hafenstadt Qingdao, deren Architektur deutlich deutsche Züge trägt.

Seit Jahren leitet Gudrun Rosenhagen im zum Deutschen Wetterdienst (DWD) gehörenden Seewetteramt eine wissenschaftliche Rettungsaktion: Im Keller des benachbarten Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrografie (BSH), in einer alten Bunkeranlage, lagern die Originalaufzeichnungen von 1563 Wetterstationen, die einstmals in deutschen Kolonialgebieten und Handelsstützpunkten betrieben wurden. Vor allem von 1884 bis 1919 und von 1930 bis 1940 trugen sie Daten über Niederschläge, Lufttemperatur und -feuchte, Windrichtung und -stärke, zu Wetterlagen und Wolkenbedeckung zusammen; einige maßen auch Wassertemperaturen und Pegelstände.

Rosenhagen: „Die Dokumente waren jahrzehntelang fast vergessen. Doch seit einigen Jahren gewinnen sie an Bedeutung, denn sie helfen bei der Rekonstruktion historischer Klimabedingungen.“ Weltweit bemühen sich die Meteorologen, oft mit Blick auf den Klimawandel, komplette Zeitreihen von Wetterdaten möglichst zurück bis ins 19. Jahrhundert zu erhalten. Für viele Regionen gibt es kaum historische Aufzeichnungen – damals steckte die Wetterbeobachtung noch in den Kinderschuhen. Deshalb versuchen die Wissenschaftler mithilfe von Modellrechnungen Datenlücken zu ergänzen. Dies gelingt umso besser, je mehr historische Messwerte zur Verfügung stehen.

„Die Deutsche Seewarte in Hamburg koordinierte alle Wetterstationen in den Kolonialgebieten oder deutschen Handelsstützpunkten“, sagt Rosenhagen. „Sie belieferte sie mit geeichten Instrumenten und standardisierten Anleitungen für die Wetterbeobachtung und Datenauswertung. Dadurch sind alle Werte vergleichbar – egal, ob sie in Ostasien, Afrika oder Südamerika erhoben wurden. Das macht die Sammlung besonders wertvoll.“ Jahrelang sei sie „hausieren gegangen“, wie sie selbst sagt, um Geldgeber zu finden, damit der Schatz im BSH-Kellerarchiv digitalisiert und so der Wissenschaftsgemeinde zugänglich gemacht werden kann. Seit 2008 wird nun nach und nach eine Wetterstation nach der anderen in die digitale Gegenwart gehievt.

Tsingtau war während der Kolonialzeit der größte deutsche Marinestützpunkt in Ostasien. Die Deutschen machten aus dem einstmals unbedeutenden Dorf eine geschäftige Hafenstadt, inklusive Brauerei, die heute noch „deutsches“ Bier (der Marke Tsingtao) produziert und exportiert.

Die Mitarbeiter des einstmaligen deutschen Wetterobservatoriums und einiger kleinerer Wetterstationen korrespondierten damals über den Landweg mit der Seewarte in Hamburg. Rosenhagen: „Die Korrespondenz ging über Sibirien. Sie brauchte nur zwei Wochen, obwohl die Transsibirische Eisenbahn noch im Bau war.“

Dagegen seien die Messgeräte monatelang auf See gewesen, sie kamen per Frachter nach Tsingtau. Und das ging manchmal schief. „Einigen Korrespondenzen ist zu entnehmen, dass manche Instrumente kaputt am Zielort ankamen oder falsch geliefert wurden.“ Die Briefwechsel zwischen dem Observatorium und der Seewarte sind die einzigen Originaldokumente, die weiterhin in Hamburg lagern – die zeitgenössischen Handschriften wären selbst für Chinesen, die der deutschen Sprache mächtig sind, kaum zu entziffern.

Prof. Hans von Storch, Leiter des Instituts für Küstenforschung im Helmholtz-Zentrum Geesthacht, gab 2008 den Anstoß, durch den nun die historischen Aufzeichnungen zu ihrem Ursprung zurückkehrten: Der Klimaforscher vergab an das Seewetteramt einen Auftrag zur Digitalisierung der Küstenstationen am Chinesischen Meer und finanzierte damit die erste digitale Erfassung von historischen Daten der Überseestationen. Das Besondere an der Station in Tsingtau ist der damalige Einsatz von automatisch aufzeichnenden Instrumenten, so dass stündliche Daten zu gewinnen waren – an den meisten kolonialen Stationen wurde nur dreimal am Tag gemessen.

Von Storch war es auch, der vor zwei Jahren mit chinesischen Wissenschaftlern Gudrun Rosenhagen im Seewetteramt an der Bernhard-Nocht-Straße 76 besuchte, um den Gästen aus Fernost die Originaldokumente der Daten zu zeigen. Die Besucher blätterten in den dicken Mappen, die zwar Patina angesetzt hatten, aber insgesamt gut erhalten sind. Die Gäste sahen handschriftlich oder mit Schreibmaschinen verfasste Texte, lange Tabellen aus Wetterdaten, dazu Skizzen und Lagepläne – und waren begeistert.

Wenige Monate später erreichte Gudrun Rosenhagen die Anfrage aus China, ob der DWD die Originalaufzeichnungen nicht abgeben könne. So ging die engagierte Meteorologin, die seit Ende letzten Jahres offiziell im Ruhestand, aber bei der Weltmeteorologen-Organisation noch maßgeblich an der Rettung historischer Wetterdaten beteiligt ist, Anfang April mit sieben schweren Mappen auf die Reise.

Sie und Hans von Storch wurden mit offenen Armen in Qingdao empfangen. „Es herrscht dort ein riesiges Interesse, das Fremde zu sehen“, schildert Rosenhagen ihre Eindrücke. Die eher zurückhaltende Wissenschaftlerin musste während der zweitägigen Zusammenkunft anlässlich der Dokumentenübergabe mehrere Vorträge halten – und wurde schließlich als Zeichen des Danks und der Anerkennung mit einem Professorentitel der Ocean University of China (Qingdao) geehrt.

Das damalige Wetterobservatorium ist heute eine militärische Anlage, aber es werden dort immer noch Wetterdaten erhoben. Die Aufzeichnungen aus Hamburg markieren den Beginn der mehr als 100 Jahre langen Zeitreihe. Gudrun Rosenhagen bereitet sich jetzt auf den nächsten Spezialeinsatz vor: Sie fliegt kommende Woche nach Mosambik zu einer Fachtagung, auf der es um die Rettung von historischen Wetterdaten rund um den Indischen Ozean geht – „vor allem den afrikanischen Anrainerstaaten wollen wir die Bedeutung der alten Daten bewusst machen.“