Das Rentenalter als Phase zurückgezogener Ruhezeit - das war einmal. Dank höherer Lebenserwartung sind die jungen Alten eine eigene Generation. Für viele ist es der Start in neue Aktivitäten.

Der Grieche Ödipus, dessen Biografie bekanntlich etwas unruhig verlief, da er versehentlich seinen Vater tötete und ebenso versehentlich seine Mutter heiratete, hat auch etwas Positives geleistet: Er befreite seine Heimatstadt Theben von dem Ungeheuer Sphinx, das die Angewohnheit hatte, die Bürger zu fressen. Er löste nämlich folgendes Rätsel, das ihm die Sphinx ultimativ stellte: "Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig."

Klar - es ist der Mensch in den klassischen drei Altersstufen, die Jahrtausende gültig waren: krabbelnd als Kind, aufrecht in jungen und schließlich am Stock in späten Jahren.

Doch in der modernen Industriegesellschaft ist diese Triade um eine vierte Stufe erweitert worden. Der britische Historiker Peter Laslett hat 1989 die Theorie vom "dritten Alter" etabliert, das den alten dritten Lebensabschnitt auf den vierten Platz verdrängt.

Notwendig und sinnvoll wurde diese Neuordnung durch die gestiegene Lebenserwartung sowie die längere Zeit, die ein Mensch heute gesund und leistungsfähig sein kann - eine Folge des medizinischen Fortschritts und der besseren Ernährung. Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurden allgemein so hohe Lebensalter erreicht. Allein im Verlauf des 20. Jahrhunderts stieg die Lebenserwartung in Europa um rund 30 Jahre - ungeachtet zweier Weltkriege. Ein heute Neugeborener hat gute Chancen, 90 Jahre zu werden. Dieses neue dritte Lebensalter beginnt etwa mit 60 und geht um die 80 in das vierte über.

Hatte man bislang körperliche und geistige Aktivität wie Leistungsfähigkeit, ja auch Attraktivität dem zweiten Lebensalter zugeordnet und dafür Weisheit wie Erfahrung vorrangig dem ehemaligen dritten, so nimmt das neue dritte Lebensalter nun das Beste von allem. Viele 70-Jährige sind heute körperlich und geistig fitter als die meisten 60-Jährigen noch vor 30 Jahren, geschweige denn noch früher.

Ein 60-Jähriger mit eindrucksvollen Muskeln im Fitness-Studio, der auf Inline-Skates oder in der Kletterwand eine gute Figur macht? Keine Ausnahme mehr; der Greis ist heiß. Die ursprünglich verbundenen Einschränkungen und Abhängigkeiten sowie den Gedanken an die Endlichkeit der eigenen Existenz verschieben sich.

Das Paradoxon: Jeder will alt werden, doch keiner will alt sein. Der Begriff "Alter" ist indessen unscharf geworden und heute nur noch als soziales Konstrukt zur organisatorischen Bewältigung des sozialen Lebens in einem Staat tauglich. (Wenn die prominente Model-Dompteuse Heidi Klum kurz vor ihrem 40. Geburtstag mit der tröstlichen Mitteilung zitiert wird, sie habe keine Angst vor dem Alter, so bewegt sich diese Definition etwas außerhalb unseres Betrachtungshorizontes.)

Die Fixierung eines festen Zeitpunkts für den Renteneintritt ist künstlich, da sie den individuellen Leistungszustand des Menschen und seinen Arbeitswillen nicht berücksichtigen kann. Derzeit wird er ohnehin notorisch unterlaufen; durchschnittlich verabschieden sich Menschen bei uns heute mit 58 Jahren aus der Erwerbstätigkeit.

Doch wenn der Mensch viel länger vital bleibt, wird die Frage zentral, wann er von Staats wegen aus dem Erwerbsleben gelöst werden soll. Die Verlängerung des offiziellen Arbeitslebens bis zum 67. Lebensjahr gibt eine mögliche Antwort. Doch was ist mit jenen, die weiterarbeiten wollen und dies gesundheitlich könnten? Denn zugespitzt lautet die Frage, ob der Mensch überhaupt je damit aufhören soll, segensreich tätig zu sein, sofern er dies noch vermag. Damit kann natürlich nicht gemeint sein, einen 75-jährigen Gerüstbauer in schwindelnde Höhen zu schicken oder einen fast 80-Jährigen ans Fließband zu stellen. Es kann überhaupt nicht Sinn der Sache sein, die Pensionsgrenze immer weiter nach oben zu verschieben.

Das dritte Lebensalter wird ja gerade definiert durch ein erhebliches Maß an Erfüllung, Freiheit und Zufriedenheit; nicht durch verordnete Zwangsbeschäftigung. Natürlich gibt es seit jeher auch miesepetrige Alte. Nicht jeden entzückt es, wenn die Geburtstagstorte einem Fackelzug gleicht. Der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero schrieb um 45 vor Christus, vor allem solche Alte würden das Leben als beschwerlich empfinden, die schon in jungen Jahren unglücklich gewesen seien. Er plädierte für ein aktives Alter. Allerdings war nicht jeder so reich wie Cicero; früheren Generationen blieb mangels staatlicher Rente meist nichts anderes übrig als bis zu Unfähigkeit oder Tod zu arbeiten. Wenn der französische Philosoph und Humanist Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert beklagte, dass sich zu viele viel zu früh aufs inaktive Altenteil zurückzögen, bezog sich dies vorrangig auf privilegierte Schichten. Doch sein Aufruf zu einem prallen, aktiven Alter ist ungebrochen aktuell.

Die Vorstellung vom "Ruhestand" im Wortsinne verblasst. Als Dwight D. Eisenhower, US-Präsident von 1953 bis 1961, gegen Ende seiner Amtszeit gefragt wurde, wie er seinen Ruhestand gestalten wollen, antwortete er: "Ich werde einen Schaukelstuhl auf meine Veranda stellen und erst einmal ein halbes Jahr darin sitzen. Dann werde ich vielleicht anfangen, ein klein wenig zu schaukeln." Undenkbar für einen Bill Clinton, Paradebeispiel für einen "Silver Ager", wie die silberhaarigen Unruheständler genannt werden.

Die Lebensskizze des stark verlängerten und qualitativ besseren Lebens muss neu gezeichnet werden; ebenso das bisherige, oft deprimierende Bild vom Alter. Denn Alter ist durchaus kein "kaltes Fieber", wie Goethe schrieb. Man muss nicht so destruktiv damit umgehen wie der Maler Eugene Delacroix, der 1850 einem Freund schrieb: "Ich glaube, es gibt niemanden, der die Enttäuschung oder vielmehr die Verzweiflung des reiferen und des hohen Alters jemals beschrieben hätte." Die Malerin Paula Modersohn-Becker notierte dagegen 1900: "Seid Idealisten bis ins Greisenalter. Idealisten, die eine Idee verkörpern. Dann habt Ihr gelebt." Zu Recht schrieb Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in seinem Buch "Das Methusalem-Komplott": "Wir kranken daran, dass Älterwerden von anderen definiert wird - in der Regel von Jüngeren, die selbst noch keine Erfahrung damit haben". Ohnehin ist Alter eine Momentaufnahme.

Immer mehr Menschen starten nach der Pensionierung in anderer Tätigkeit durch; viele Freiberufler machen weiter. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gingen 2011 bereits 763.000 Menschen über 64 Jahren einer Beschäftigung nach; Tendenz stark steigend. Dies liegt auch daran, dass es weniger körperlich verschleißende Berufe gibt. Aber viele, in denen "Silver Ager" ihre enormen Erfahrungen anwenden und weitergeben können.

Es gibt natürlich Phänomene wie den fast 90-jährigen Publizisten und Bestsellerautoren Peter Scholl-Latour. "Ich komme gerade von der türkischen-syrischen Grenze zurück", sagte Scholl-Latour dem Abendblatt am Donnerstag. "Zwar habe ich nie damit gerechnet, 90 zu werden. Doch wenn ich allein auf eine Festanstellung in einem Sender angewiesen wäre, hätte man mich mit 65 in Rente geschickt. Ich hätte also 25 Jahre in Untätigkeit verbracht - das wäre ja unerträglich gewesen! Statt dessen habe ich in dieser Zeit unter anderem rund 20 Bücher geschrieben". Scholl-Latour räumt ein, dass sein Berufsbild nicht typisch ist, dass ein Dachdecker oder Maschinenarbeiter nicht einfach weitermachen können. Doch er legt jedem, der sich dem Rentenalter nähert, ans Herz, sich eine sinnvolle Tätigkeit zu suchen. Zumal unstrittig ist, dass dies dem körperlichen und geistigen Verfall vorbeugen kann. "Ich fühle mich überhaupt nicht meinem Alter entsprechend", sagt Scholl-Latour.

Inzwischen gibt es sogar ein Internet-Portal namens "rentarentner.de". Kurz nach Gründung Anfang 2013 trugen sich Tausende ab 50 Jahren in die Kartei ein. Wichtig sind individuelle Spielräume. Der Zwang, von morgens bis nachmittags am Schreibtisch sitzen zu müssen, sollte schon wegfallen.

Den staatlichen Zwang, mit 65 oder 67 in Rente gehen zu müssen, hält der Münchner Wirtschaftswissenschaftler und Altersexperte Professor Axel Börsch-Supan für "ökonomisch falsch" und für eine "Altersdiskriminierung". Und: "Wir können nachweisen, dass die Hirnfunktionen nachlassen, wenn man nichts tut", sagte der Direktor des am Max-Planck-Institut angesiedelten "Munich Center for the Economics of Aging" dem Versicherer-Dachverband "GDV". "Das Gehirn wird nicht mehr trainiert, die Gedächtnisleistungen und Reaktionsgeschwindigkeiten nehmen ab - man altert schneller." Doch auch der Gesundheitszustand verschlechtere sich. Man habe dies gut beobachten können, wenn Industriezweige stillgelegt und Mitarbeiter systematisch in Rente geschickt wurden - "sie sind früher gestorben". Es gebe in den USA und Europa viele Studien, aus denen abzulesen sei, wie schädlich es für Ältere sei, längere Zeit nichts zu tun, nur auf der Couch zu sitzen und Fernsehen zu gucken, sagt Axel Börsch-Supan.

Einbußen im Alter erleidet zwar die "fluide Intelligenz", bei der es um Wendigkeit und rasche Kombinations- und Koordinationsfähigkeit geht. Doch die "kristalline Intelligenz" mit Erfahrung, Allgemeinwissen und Wortschatz bleibt bis ins hohe Alter stabil. Jüngste Forschungen zeigen, dass die Produktivität im Alter sogar steigt. Zudem vermeiden Ältere aufgrund ihrer Erfahrung schwere Fehler. Ein erfülltes "drittes Alter" ist nicht nur persönlich erfüllend und beugt dem berüchtigten "Rentner-Tod" aufgrund von Sinnleere, Untätigkeit und sozialer Isolation vor - es ist auch ökonomisch sinnvoll. Zwei Drittel der arbeitenden Rentner tun dies nicht aus finanzieller Not, ergab eine Studie des Instituts der Wirtschaftsforschung. "Arbeit ist der neue Sex" brachte es das Magazin "Stern" auf den Punkt. Und wirklich alt ist man erst, wenn man an der Vergangenheit mehr Freude hat als Gegenwart und Zukunft.