Wie jedes Jahr warten die Menschen auf den Frühling. Der Hamburger TV-Psychologe Michael Thiel erklärt den Rhythmus der Gefühle.

Seit Wochen ist es düster, kalt, regnerisch oder es schneegrieselt. Entsprechend groß ist die Sehnsucht nach ein bisschen Frühling und der Verdruss gegenüber der scheinbar endlosen Reihe von grauen Tagen. Ein Gespräch über Winter- und Sommertypen und warum Menschen heute unglücklicher sind.

Hamburger Abendblatt: Herr Thiel, warum zaubert ein bunter Blumenstrauß oder zaghaftes Vogelzwitschern früh am Morgen Mitte Februar Menschen ein Lächeln ins Gesicht?

Michael Thiel: Genau dieses Lächeln will ich auch haben und deshalb stehen gelbe Tulpen auf meinem Schreibtisch – die erstaunlicherweise sogar duften. Und als ich mich in dieser Woche abends ans geöffnete Fenster gestellt habe, da hörte auch ich erste verhaltene Vogelstimmen. Ich weiß genau, was Sie meinen: Die Sehnsucht nach Frühling, nach Licht und Wärme macht die meisten Menschen gerade in der ungemütlichen Jahreszeit ungeduldig, und so holen wir uns eine Art Vorfrühling ins Haus. Man nennt das eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Ich will, dass der Winter endet, deshalb schaffe ich ein paar äußere Umstände dafür, und dann empfinde ich das auch so.

Es gibt auch Menschen, denen der Winter gar nicht lang genug sein kann…

Michael Thiel: Es gibt Winter- und Sommertypen. Die einen mögen es gern kuschelig, genießen Gemütlichkeit und Genuss und haben überhaupt kein schlechtes Gewissen, wenn sie sich jahreszeitenbedingt wenig bewegen können. Die anderen sind dauernd auf dem Sprung, warten auf den ersten kleinen Lichtstrahl, um endlich wieder losjoggen zu können. Oder flüchten dorthin, wo auch im Winter die Sonne scheint. Dabei ist es ganz banal: Der Frühling kommt. Irgendwann. Immer. Nur Geduld!

Leicht gesagt! Zumal warten gerade nicht angesagt ist. Kaum ist Weihnachten vorbei, stehen die Osterhasen im Regal, Hyazinthen und Tulpen in den Blumenläden und Erdbeerschalen im Supermarkt, um erst einmal bei den naheliegenden Beispielen zu bleiben. Jahreszeiten zu leben und zu akzeptieren fällt da schwer...

Michael Thiel: Obwohl die Vorfreude auf ein schönes Weihnachts- oder Osterfest etwas ganz Wunderbares ist. Aber ich bin auch einer von denen, die beim kleinsten Anzeichen von Frühling aufräumen und die aussortierten Sachen bei Ebay einstellen. Dieses Gefühl zu haben, es muss jetzt sofort etwas passieren, kann viel Positives bewirken. Ich erlebe das auch in meiner Praxis. Zum Jahresanfang haben Menschen den Wunsch, klar Schiff zu machen. Sie stellen sich Fragen nach der Zukunft im Job oder der Beziehung.

Sind die Menschen heute unglücklicher als früher?

Michael Thiel: Ja. Weil sie sich intensiver mit anderen vergleichen. Früher war es nur das Auto, das vor der Tür stand und das vermutete Gehalt im Job. Heute sind es zunehmend die sozialen Netzwerke, in denen sich jeder darstellt, wie ihm zumute ist.

Sie meinen geschönte Biografien?

Michael Thiel: Was niemand überprüfen kann, verführt zur Unwahrheit. Als Folge schaukeln sich die Geschichten hoch, steigert sich aber auch der Frust. Vergleiche machen unglücklich, das weiß jeder, der auf einem Klassentreffen war, diesen Pools der Unglücklichen. Die Denke, das kann es doch noch nicht gewesen sein? Ich muss noch mehr rausholen, das muss doch funktionieren, treibt die Menschen in die Unzufriedenheit.

Andererseits ermöglicht das Internet eine schnelle Bedürfnisbefriedigung ...

Michael Thiel: Das Internet verändert nicht nur die Konsumgewohnheiten, sondern auch die Menschen. Sich sofort alle Wünsche zu erfüllen, nicht abwarten zu können zeugt von psychologischer Unreife. Zum Erwachsensein gehört die Einsicht, dass man Bedürfnisse auch mal aufschieben muss.

Ein sehr konservativer Ansatz in Zeiten, in denen 14jährige Schüler für ein Auslandsjahr nach Australien reisen, mit 23 das erste Studium hinter sich haben und Männer ab 40 Jahren im Job in der in der Midlife-Krise sind.

Michael Thiel: Deswegen ist die Rückbesinnung auf die guten alten Tugenden des Abwarten und Ausharren Könnens auch so wichtig für eine Gesellschaft. Der Glaube, sich mit Geld Glück erkaufen zu können, ist ein Irrglaube. Nur erarbeitetes Glück und das Glück in Beziehungen machen wirklich zufrieden. Das versuche ich übrigens als Glücksbotschafter der Stiftung Kinderjahre schon den ganz Kleinen beizubringen: Wir versuchen durch Lehrerfortbildungen das Schulfach Glück in die Hamburger Schulen zu bringen.

Und was ist nun mit den Frühlingsgefühlen, die uns ungeduldig machen?

Michael Thiel: Kein Problem. Genießen Sie diese prickelnden Gefühle, gehen Sie raus, kaufen Sie weiter bunte Blumen und erfreuen Sie sich daran.