Norddeutscher Forschungsverbund sucht nach Krankheitsursachen. Das soll etwa Morbus-Crohn-Patienten helfen.

Kiel. Wer mit Wissenschaftlern über Lungen-, Darm- oder Herzkrankheiten spricht, hört immer wieder dieses Fremdwort: Inflammation (Entzündung, von lateinisch "inflammare"). Ein ganzer Zweig der Grundlagenforschung hat sich etabliert, der solche Fragen beantworten will: Worum versagt bei dem einen Menschen die ganze Lunge bei einer Pneumonie und beim Patienten im Nachbarbett nicht? Was löst chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn aus? Liegt es an den Genen, den Stoffen, die die Gene steuern, oder der Umwelt? Welche Rolle spielen die Zellen der Haut, der Darmwand, der Lunge als "Barriereorgane" zwischen dem Mensch und der Außenwelt?

"Inflammation-at-interfaces" (Entzündung an Grenzflächen) ist der Name eines Verbundes zur Entzündungsforschung. Das Exzellenzcluster in Norddeutschland wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, im Juni wurden weitere fünf Jahre bewilligt. Mehr als 200 Wissenschaftler der Universitäten Kiel und Lübeck, dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH, Kiel/Lübeck), dem Leibniz Forschungszentrum Borstel und dem Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie (Plön) sind daran beteiligt.

"Entzündungsforschung ist für die Medizin zur Herausforderung des 21. Jahrhunderts geworden", sagt Stefan Schreiber, Sprecher des Exzellenzclusters und Direktor der Klinik für Innere Medizin I am UKSH in Kiel. Dort gründete er auch vor einigen Jahren das Institut für Klinische Molekularbiologie (IKMB), das zur Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gehört.

Schreiber und Kollegen forschen schwerpunktmäßig an chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED). Morbus Crohn führt vor allem bei Menschen zwischen 15 und 35 Jahren zu schweren Durchfällen und Schmerzen. Gewebeschäden können die Folge sein, Patienten benötigen meist eine lebenslange Behandlung und bei Komplikationen chirurgische Eingriffe. Während Morbus Crohn häufig den Dünndarm befällt, ist bei der Colitis ulcerosa vor allem das Gewebe von Dick- und Mastdarm verändert.

Weltweit sind mehr als 2,5 Millionen Menschen von diesen Darmkrankheiten betroffen, vor allem in Industrienationen. Vergangene Woche erschien eine internationale Studie im britischen Fachmagazin "Nature", die sich mit den genetischen Ursachen befasst und an der Forscher vom IKMB beteiligt waren. Die Wissenschaftler analysierten Daten von mehr als 75 000 Patienten. Sie fanden genetische Variationen in 163 Regionen des menschlichen Erbguts, die in Zusammenhang mit den Darmkrankheiten stehen könnten, 71 davon wurden neu entdeckt. Ergebnis: Morbus Crohn und Colitis ulcerosa haben zumindest in puncto Genen mehr gemeinsam als gedacht.

Viele dieser Stellen im Erbgut stehen laut Studie für eine Anfälligkeit gegenüber bestimmten Bakterien, die als eine der Ursachen von Morbus Crohn diskutiert werden. Laut Mitautor Andre Franke vom IKMB wollen die Forscher in Zukunft den Fokus noch mehr auf die Bakterien und Viren im Darm legen. "Hierfür planen wir, Stuhlproben von Tausenden Patientinnen und Patienten sowie von gesunden Personen zu untersuchen und mit den genetischen Daten zu kombinieren." Andere Genvarianten sind auch bei bestimmten Gelenkerkrankungen und Schuppenflechte auffällig, Krankheiten, die auf eine Störung der Immunabwehr zurückgeführt werden. Das ist nicht überraschend, denn auch Morbus Crohn und Colitis ulcerosa entstehen wohl, weil sich das Immunsystem gegen den Körper richtet.

Nach und nach setzen die Forscher nun das Puzzle zusammen, wie es zu den Darmerkrankungen kommen kann. Dabei werfen sie auch alte Annahmen über Bord. "Unser Immunsystem besteht aus einer angeborenen und erworbenen Immunität", sagt Philip Rosenstiel vom IKMB. Nach der Geburt setze sich der Körper mit Stoffen auseinander, und Lymphozyten, eine Sorte weißer Blutkörperchen, bilde Antikörper. "Wir haben immer gedacht, dass die entzündlichen Darmerkrankungen durch eine Überaktivierung dieser Zellen bedingt sind." Dies sei im Prinzip auch so. "Aber schaut man auf die Gene, erlebt man eine Überraschung: Es sind Gene verändert, die mit der alten, angeborenen Immunität zu tun haben. Es sind also Webfehler im System, die zu einer Abwehrschwäche führen." Die Folge: Körpereigene oder harmlose Bakterien werden als feindlich erkannt und von Immunzellen "beschossen".

Mit dem "alten Immunsystem" meint Rosenstiel die sogenannten Toll-ähnlichen Rezeptoren. Im Jahr 2011 wurde für deren Entdeckung der Medizin-Nobelpreis verliehen. Es handelt sich um Moleküle in den Zellen von Darm, Haut oder Bronchien, mit denen das Immunsystem Krankheitserreger erkennt. Auch dazu veröffentlichten Kieler Forscher kürzlich Ergebnisse im US-Journal "PNAS" - es waren allerdings Kollegen vom Zoologischen Institut. Ihre Erkenntnis: Die Rezeptoren dienten schon in der sehr alten Gruppe der Nesseltiere der Immunabwehr. Daher könnten diese Tiere bei manchen Fragestellungen stellvertretend für den Menschen untersucht werden.

Ein weiteres Puzzleteil: Im Fachblatt "Genome Research" berichtete Rosenstiels Team über eine Studie an zehn eineiigen Zwillingspaaren, die zehn Jahre lang betreut wurden. Zwar waren die Gene der Paare jeweils identisch, doch nur ein Zwilling erkrankte an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Rosenstiel: "Daran sieht man: Die Gene sind nur die halbe Miete. Wir müssen auch verstehen, warum die Gene in welchem Moment aktiv sind, und von welchen Prozessen sie gesteuert werden."

Dieser Forschungsbereich heißt Epigenetik. Bislang sei lediglich bekannt, dass Umweltfaktoren wie Ernährung und Lebensstil den Ausbruch der entzündlichen Darmerkrankungen beeinflussen können - aber in welchem Maße ist noch unklar. Aus der Analyse der Zwillingsdaten erhoffen sich Rosenstiel und Schreiber nun neue Erkenntnisse für Therapien oder Vorsorge.

Hier schlägt die Grundlagenforschung die Brücke zu den Patienten. "Mit den bisher verfügbaren Medikamenten werden die Symptome von entzündlichen Darmerkrankungen unter Kontrolle gebracht. Wir setzen Immunsuppressiva ein, die die überschießende Abwehrreaktion des Körpers unterdrücken", sagt Rosenstiel. "Eine ursächliche Therapie sollte aber wohl besser das angeborene Immunsystem und die Zellen in der Darmwand stärken, damit es gar nicht mehr zu einer solchen Reaktion kommt." Wann es den Wissenschaftlern gelingt, genügend Puzzleteile zusammenzusetzen, um daraus konkrete Therapien entwickeln zu können, ist noch offen.