Pin-up-Modell, Fruchtbarkeitssymbol oder Göttin? Eine Frauenfigur aus Mammutelfenbein, die Archäologen auf der Schwäbischen Alb fanden, wirft ein neues Licht auf die Verehrung der Weiblichkeit.

Vielleicht war der Künstler einfach nur einsam und sehnte sich nach einer Frau, die ihm die kalten Nächte in der klammen Höhle angenehm gestalten und ihm zudem viele Kinder gebären könnte. Vielleicht saß er aber auch zufrieden im Kreise seiner Horde, griff beim Flackerlicht eines Feuers zur Steinklinge und schnitzte seiner Gefährtin aus dem Stoßzahn eines erlegten Mammuts ein bedeutungsvolles Amulett.

Ob Pin-up-Figur, Fruchtbarkeitssymbol oder Göttin - die genaue Bedeutung jenes spektakulären Fundes, den Tübinger Archäologen in der Höhle "Hohle Fels" bei Schelklingen auf der Schwäbischen Alb gemacht haben, wird wohl für immer im Dunkel der Geschichte bleiben. Und dieser Teil der Geschichte ist wirklich dunkel, denn er liegt sehr weit zurück: Die gerade einmal sechs Zentimeter kleine, detailliert geschnitzte weibliche Figurine aus Mammut-Elfenbein ist möglicherweise an die 40 000 Jahre alt. "Eine Sensation", sagt der Tübinger Archäologe Nicholas Conard; die Figur werfe ein völlig neues Licht auf die Entstehung der Kunst in Europa. Dass sich die Menschen schon damals, zu Beginn des Aurignacien, einer Zeitperiode, die vor 40 000 Jahren begann und etwa 12 000 Jahre andauerte, mit figürlicher Kunst beschäftigt haben, "war völlig unerwartet". Bislang waren nur Tierdarstellungen aus jener Zeit aufgetaucht. Damals wanderte der Homo sapiens nach Europa ein und traf dort auf den kräftigeren Neandertaler, der keineswegs so stumpf-dumm war, wie es lange dargestellt wurde. Noch 10 000 Jahre lang, bis in die Zeitperiode des Gravettiens, lebten beide in Koexistenz.

Die meisten Teile der "Venus" von Schelklingen wurden bereits im vergangenen September gefunden, doch die Suche nach den fehlenden Fragmenten - linker Arm und Schulter - geht weiter. Die dargestellte Frau ist stark gebaut, man kann getrost sagen, fettleibig, hat eindrucksvolle Brüste und eine stark ausgeprägte Vulva. Nach heutigen Maßstäben grenze das an Pornografie, meinte der Archäologe Paul Mellars im Fachblatt "Nature".

Mehr als 200 "Venus"-Figurinen hat man bisher in Eurasien zwischen Frankreich und Sibirien gefunden, sie stammen in der Regel aus dem Gravettien und sind um die 25 000 bis 30 000 Jahre alt. Die berühmteste dieser Darstellungen ist die Venus von Willendorf in Österreich, die ebenfalls stark ausgeformte weibliche Merkmale aufweist. Zwei Figuren fallen örtlich wie zeitlich aus dem Rahmen und sind unter Archäologen entsprechend heftig umstritten: Die Venus von Tan-Tan in Marokko soll bis zu 500 000 Jahre alt sein, die Venus von Berekhat Ram auf den Golanhöhen bis zu 300 000 Jahre. Doch wie weit sie von geologischen Prozessen geformt oder von Menschenhand bearbeitet wurden, ist unklar.

Doch warum fertigten unsere Vorfahren derartige Figuren an und welche Bedeutung erlangten diese Darstellungen?

Dazu muss man wissen, dass die letzte Eiszeit, die vor etwa 10 000 Jahren endete, ihren Höhepunkt vor rund 21 000 Jahren erreichte. Im Aurignacien und im Gravettien war es kalt, sehr kalt, das Überleben ein einziger Kampf. Schließlich ging die Geburtenrate dramatisch zurück, es herrschte großer Mangel. Vorübergehend verließ der Homo sapiens Mitteleuropa ganz. Der enorm muskelbepackte Neandertaler starb wohl auch deshalb aus, weil er nicht mehr genügend Kalorien zusammenjagen konnte, um seinen Hochleistungskörper in Betrieb zu halten. Der leichtere und anpassungsfähigere Homo sapiens überlebte.

Die Menschen träumten von dicken Frauen, mit genügend Fettreserven, um sich und ihre Embryonen durch den ewigen Winter zu bringen. Die Künstler unter den Männern mögen sich mit den "Venus"-Figurinen, die alle nur wenige Zentimeter groß sind, zudem ihre sexuellen Fantasien griffbereit zurechtgeschnitzt haben. Die Venus von Schelklingen besitzt am Kopf eine winzige Öse - ob Mann oder Frau sie dann getragen hat, wissen wir nicht.

Dass die Geschlechtsmerkmale oft liebevoll im Detail dargestellt werden, Köpfe weitestgehend und Gesichter völlig entbehrlich scheinen, sagt einiges über die Prioritäten der Künstler aus.

Manche Forscher meinen, die mütterlichen Figuren seien Ausdruck eines frühen Matriarchats, doch das ist ebenfalls heftig umstritten. Vermutet werden kann aber, dass die Rolle der Frau in den Köpfen der Männer schon damals zwischen Mutter, Partnerin, Geliebter, Göttin und Domina lebhaft oszilliert haben muss.

Das rätselhafte Wesen Frau, das Leben schenken und zugleich die lustvollsten Sehnsüchte der Männer wecken kann, wurde - wen wundert es - sehr früh vergöttlicht. Es entstand in den alten Hochkulturen wie Sumer, Assyrien, Babylonien und Ägypten, später auch in Griechenland und Rom, ein fast einheitlicher Typ von Göttin, der für die Liebe, die Fruchtbarkeit und häufig zugleich noch für Krieg, Tod und Zerstörung zuständig war. Die verschiedenen Kulturen übernahmen manche Göttin kurzerhand von einer anderen und entwickelten sie weiter.

Der westsemitischen Astarte entsprachen die sumerische Inanna, die babylonische Ischtar - aus der möglicherweise die ägyptische Göttin Isis hervorgegangen ist -, die altsyrische Kriegs- und Liebesgöttin Anat und viel später schließlich die germanische Göttin Freya, die sich auch um Liebe und Fruchtbarkeit zu kümmern hatte.

Der Planet der Inanna war übrigens die Venus, die damals natürlich noch nicht so hieß. Direktes Vorbild unserer Venus, nach der all die vielen Steinzeit-Figürchen benannt sind, war die griechische Aphrodite, die wiederum auf orientalische Schwestern zurückgeht. Sie ist die Göttin der Liebe, der sinnlichen Begierde, des Werden und Wachsens, kann aber auch in der Manifestation der Aphrodite Persephassa den grausamen Aspekt des kriegerischen Zerstörens enthalten.

Und dann schließlich die Venus selber - römische Göttin der Liebe, der Schönheit und der Lust, aber als Venus Libitina auch Totengöttin. Ein lebhafter Kult entstand um sie, wie um Aphrodite. Prachtvolle Tempel wurden der Venus geweiht; das mächtige Geschlecht der Julier, aus dem Gaius Julius Cäsar hervorging, nahm sie als Stammmutter in Beschlag.

Die Venus, die sicher nicht amüsiert wäre, dass sie Namensgeberin auch für den medizinischen Begriff der venerischen (Geschlechts-)Krankheiten war, ist die Projektion der männlichen Begierde - sie betrog ihren Mann Vulcanus nach Strich und Faden - und reizte Künstler diverser Epochen zu mehr oder minder unbekleideten Darstellungen. Da es sich um eine Göttin handelt, konnten sie dies ungestraft tun.

Der berühmten Venus von Milo aus dem Jahr 100 vor Chr. - eigentlich handelt es sich um Aphrodite - hängt ein Tuch bedenklich tief um die Hüften wie manche Jeans einer modernen Göttin, und die wunderbare Venus von Botticelli verdeckt ihre Blöße gar nur mit dem eigenen Haar.

Von der Göttin der alten Römer führt ein langer, aber direkter Weg zu den prallen Idolen der Gegenwart, zur Wiedergeburt der Venus. Zu Marilyn Monroe etwa oder Jessica Alba. Göttinnen mögen ihre Namen ändern - die Männer bleiben die gleichen.