Eine unglaubliche Arten- und Formenvielfalt brachte der Census of Marine Life, die Zählung in den Meeren, ans Licht. Die meisten Arten leben vor Japan.

San Francisco. Wollen Sie eingewanderte Tierarten sehen, dann kommen Sie zum Mittelmeer. Diese Aufforderung steht in der ersten Zusammenfassung des Census of Marine Life, der weltweit durchgeführten Volkszählung der Meeresbewohner. Mehr als 600 Neuankömmlinge bevölkern das Gewässer zwischen Südeuropa und Afrika. Sie stammen meist aus dem Roten Meer und kamen durch den Suezkanal. Aber auch der europäische Atlantik und die Ostsee beherbergen verhältnismäßig viele Zuwanderer.

In Sachen Artenvielfalt belegt das Mittelmeer im globalen Vergleich Rang vier unter den 25 erfassten repräsentativen Meeresregionen. In ihm fanden die Forscher 16 848 Arten. Auf Rang fünf kam der Golf von Mexiko mit 15 374 Arten - zumindest vor der Ölpest. Die Nordsee landete mit 12 270 Spezies im vorderen, die Ostsee im hinteren Mittelfeld (5865 Arten). Doch nirgendwo sonst leben so viele verschiedene Meerestiere wie rings um Japan und Australien. In beiden Seegebieten kommen jeweils rund 33 000 verschiedene Arten vor, berichten beteiligte Forscher im Journal "PloS One". Die komplette Datensammlung wollen sie am vierten Oktober in London präsentieren.

Ein Urzeit-Krake, feengleiche Meeresschnecken, riesige Einzeller und besonders hitzeresistente Muscheln gehören zu den Entdeckungen der Bestandsaufnahme, an der sich inzwischen 2000 Forscher aus rund 80 Ländern beteiligen. Nie zuvor ist die Frage "Was lebt im Meer?" so genau beantwortet worden. Und nie zuvor gab es so viel Grund zur Sorge , denn der Mensch bedroht die marine Vielfalt massiv. Viele Menschen denken dabei zunächst an Fische. Sie sind zwar die bekannteste, aber bei Weitem nicht die häufigste Tiergruppe. Diese Rolle fällt den Krebstieren zu, sie stellen fast ein Fünftel des Arteninventars.

Die im Jahr 2000 begonnene Volkszählung fing nicht bei null an. Sie wertete zunächst die fast 30 Millionen Eintragungen des Biogeografischen Ozean-Informationssystems (OBIS) aus. Zusammen mit der Feldforschung in den 25 Schlüsselregionen der Weltmeere umfasst die Liste jetzt 185 000 wissenschaftlich bekannte Arten.

Doch noch fehlen Meldungen aus den Gewässern rund um Madagaskar, Indonesien und aus dem Arabischen Meer. Deshalb wird der Katalog bis zur endgültigen Präsentation im Oktober voraussichtlich auf 230 000 Arten anwachsen, von der Mikrobe bis zum Blauwal. Unter den Fischen erwies sich der grimmig dreinschauende Viperfisch Chauliodus sloani als wahrer Kosmopolit. Der Tiefseebewohner fand sich in mehr als einem Viertel der untersuchten Meeresregionen.

Zu jeder bekannten Tierart könnten noch vier weitere existieren, vermuten die Forscher. Das gilt weniger für die gut erforschten Wale oder Haie als vielmehr für die kaum zu erfassende Vielzahl kleiner Schnecken, Würmer, Muscheln oder Einzeller. Gänzlich unübersichtlich wird es, wenn Algen, Bakterien oder Viren hinzukommen. In den Ozeanen leben vermutlich rund zehn Millionen Arten, schätzt Prof. Pedro Martínez, Direktor des Forschungsinstituts Senckenberg am Meer (Wilhelmshaven). Vor allem in der Tiefsee tue sich eine riesige Vielfalt auf. Noch in sieben Kilometer Tiefe finden sich Fische - bei einem Druck, der viele U-Boote zerquetschen würde wie eine Dampfwalze eine Coladose. "Dieser ersten Bestandsaufnahmen liegen spärliche und ungleich verteilte Proben zugrunde", erklärt auch der Hauptautor der Zensus-Zusammenfassung, Mark Costello von der Universität in Auckland, Neuseeland.

Dem scheinbaren Überfluss zum Trotz: "Die See ist in Schwierigkeiten", sagt Nancy Knowlton von der Smithonian Institution in Washington, Leiterin der Riff-Arbeitsgruppe. Die Korallenstöcke sind die artenreichsten Ökosysteme des Meeres, gelten als ozeanisches Pendant zu den tropischen Regenwäldern. Knowlton: "Die Riffbewohner haben in keinem nationalen oder internationalen Gremium Sitz oder Stimme, aber sie leiden und müssen gehört werden." Die größte Bedrohung geht von der Überfischung der Meere aus, die seit vielen Jahren im Detail bekannt ist und von Warnungen begleitet wird - oft ohne Konsequenz. Der Verlust von Lebensräumen, einwandernde Arten, Verschmutzung, Überdüngung, Sauerstoffmangel, Verklappung von Müll oder die Versauerung der Meere setzen der Unterwasserwelt ebenfalls zu.

Die Überfischung trifft nicht nur die Fischwelt, sondern das gesamte Ökosystem. Wenn über Jahrzehnte riesige Schwärme weggefangen werden, wachsen Algen massenhaft. Das wiederum hilft Quallen, die sich explosionsartig vermehren und dann alle möglichen weiteren Meeresorganismen fressen. Damit ist das ursprünglich stabile, vielfältige Zusammenspiel der Arten zerstört. Die jetzige Bestandsaufnahme spiegelt also nicht mehr den ursprünglichen Naturzustand wider, sondern von Menschen beeinflusste Meeresgemeinschaften, deren Schutzwürdigkeit erst allmählich begriffen wird.