Schon 142 Tote: Es geht um die Vorherrschaft im Drogenhandel und den Kopf des Paten Paolo di Lauro. Die Polizei ist machtlos. Jetzt rückte eine Einheit der Armee zur Großrazzia an.

Neapel. Es war noch dunkel, als gestern früh die Staatsmacht zuschlug. Mit Panzerwagen besetzte eine Sondereinheit der italienischen Armee zur Mafia-Bekämpfung zahlreiche Straßenkreuzungen im Norden von Neapel. Dann drangen schwerbewaffnete Soldaten in einzelne Häuser ein. Den Patrouillen der Camorra auf den Straßen blieb keine Zeit mehr, ihre Bosse zu warnen. Das Ergebnis der Großrazzia: Elf Camorra-Gangster des Clans Graziano wurden festgenommen.

Es war einer jener verzweifelten Versuche der italienischen Regierung, einen beispiellosen Kampf zwischen verschiedenen Mafia-Gangs um die Vorherrschaft in Neapel unter Kontrolle zu bekommen. 142 Tote gab es seit Beginn des vergangenen Jahres - einen so harten Krieg lieferten sich die Camorra-Clans seit dem blutigen Jahr 1982 nicht mehr.

Eine Gruppe junger Gangster, die jahrelang in Spanien operierten und daher auch "die Spanier" genannt werden, versucht den seit zwei Jahren flüchtigen Paten von Neapel, Paolo di Lauro, vom Thron zu stürzen. Paolo di Lauro hatte fast zwei Jahrzehnte lang den Drogenhandel aus Südamerika und Asien in dem Großraum Neapel beherrscht. Die Familie di Lauro duldete keine Konkurrenz, doch die Spanier wagten es trotzdem, große Mengen Drogen aus Marokko und Tunesien nach Neapel zu bringen.

Zum Entsetzen der Polizei morden die Gangsterbanden auf offener Straße und am hellichten Tag. Sie schrecken vor nichts mehr zurück. Zum ersten Mal in der Geschichte der Camorra wurde sogar eine junge Frau hingerichtet: Die 22jährige Gelsomina Verde starb am 21. November 2004 durch eine Kugel und wurde anschließend verbrannt; sie hatte nicht verraten wollen, wo sich ihr Freund aufhielt, den die Gangster töten wollten. Vincenzo Mazzarella, der neue Camorra-Boss des neapolitanischen Viertels Forcella, wurde in seiner Wohnung beim Kaffeetrinken erschossen - von vermeintlichen Freunden, die mit ihm am Tisch saßen. Selbst als Staatspräsident Carlo Ciampi am 3. Januar Neapel besuchte, um zum Kampf gegen die Camorra aufzurufen, schlugen die Gangster zu: Drei Menschen kamen allein an diesem Tag ums Leben.

Dort, wo gestern in aller Frühe die Armee zur Razzia aufmarschierte, herrschen normalerweise die Patrouillen der Clans. Sobald es dunkel wird, errichten sie an den Straßen zum Stadtteil Secondigliano im Norden Neapels ihre Sperren. Wer sich des Nachts mit dem Wagen in diese Gegend traut, muß damit rechnen, plötzlich eine dichte Reihe Jeeps - meist vom Typ Nissan Patrol - vor sich zu haben. Schwarz vermummte Männer mit Maschinenpistolen im Anschlag fordern den Autofahrer auf: "Öffnen Sie doch bitte den Kofferraum." Die Männer durchwühlen dann akribisch das Auto. Sie sollen verhindern, daß die mit ihnen verfeindeten Clans Waffen, Munition oder Sprengstoff in den umkämpften Stadtteil schleusen

Die auflagenstärkste italienische Tageszeitung "La Repubblica" druckte bereits mehrfach Stadtpläne, auf denen sie die Checkpoints der Camorra einzeichnete. So sollten die Leser erfahren, wie sie sie meiden können.

Die Polizei von Neapel hat immer wieder klargemacht, daß sie überfordert ist mit diesem eskalierten Kampf, obwohl Neapel mit einem Polizisten pro 200 Einwohner die höchste Polizeidichte Italiens aufweist. Mehr als 20 000 Polizisten arbeiten im Großraum Neapel, 15 000 kämpfen gegen die Camorra. Die Regierung setzt nun auf die Armee wie bereits beim Kampf gegen die sizilianische Mafia Cosa Nostra, als 1994 mehr als 4000 Soldaten für die Aktion "Sizilianische Vesper" abkommandiert wurden. Gegen die kalabrische Mafia 'Ndrangheta schickte die Regierung die Fallschirmspringer des Tuscania- Regiments, weil die Gangster sich in abgelegenen Schluchten des Aspromonte-Gebirges in Kalabrien versteckt hatten.

In Neapel geborene Polizisten gegen die Camorra zu mobilisieren ist indes aus einem anderen Grund ein Problem: Denn fast jeder von ihnen kennt einige oder sogar viele Mitglieder der Camorra-Clans und käme niemals auf die Idee, sie zu verhaften. So kann beispielsweise ein Mann namens Gianfranco seit Jahren unbehelligt seinen dunklen Geschäften nachgehen. Er ist stadtbekannt, und wer ihn treffen will, findet ihn meistens in seinem einfachen Lieblingsrestaurant "Sciue". Dort taucht Gianfranco abends mit seinem Katalog auf, der "Shopping unter den Sternen" heißt.

Gianfranco ist ein netter Kerl und erklärt ausführlich sein Angebot. Manchmal hat er 100 vorlackierte Kotflügel für den neuen VW-Golf, manchmal einen Schiffsdieselmotor, manchmal aber auch schlichte Flachbild-Fernseher. Die Ware zeichnet sich dadurch aus, daß sie nur rund ein Drittel ihres Neuwertes kostet. Jeder weiß, daß die Ware aus geklauten Lkw stammt, die die Camorra rund um Neapel knackte.

Gianfranco arbeitet für einen Boss in Forcella, das ist Don Ciccio, ein Pate, den die Menschen lieben. Don Ciccio engagiert vorwiegend Frauen mit vielen Kindern, deren Männer im Gefängnis sitzen. Er schickt sie in die Fußgängerzonen, damit sie geschmuggelte Zigaretten verkaufen. Neben die Frauen postiert er zwei seiner muskelbepackten Schläger. Natürlich entgeht es Streifenpolizisten nicht, daß die Frauen illegal Zigaretten verkaufen, aber sie festzunehmen, bedeutet ein zu hohes Risiko. Die beiden Schläger schrecken in der Regel nicht davor zurück, die Polizeibeamten zu verprügeln, bis die Menge zu Hilfe kommt. Eine arme Frau, die versucht, ihren Lebensunterhalt durch Zigarettenverkauf zu verdienen, kann kein Polizist auf der Straße in Neapel so einfach verhaften. Die wenigen Versuche enden fast immer mit Verletzungen der Polizeibeamten, aber so gut wie nie mit einer Festnahme. Denn nach Meinung der meisten Neapolitaner, so zeigen Umfragen, tut die Frau ja gar nichts Böses, sie verkauft geschmuggelte Zigaretten und schadet dem Staat, einem Staat, der sich noch nie um die Leute in Neapel gekümmert hat.

Natürlich betreibt auch Don Ciccio nicht nur das Geschäft mit Zigaretten, sondern auch Drogenhandel. Aber in Nepal weiß jeder, was Don Ciccio dazu zu sagen pflegt: "Wenn ich es nicht mache, dann kommen die Albaner oder die Marokkaner und dann wird alles noch schlimmer."

"Das schlimmste für die Polizei ist der Rückhalt der Camorra in der Bevölkerung", sagt der Polizeichef von Neapel, Paolo Longo. Selbst die Kriege der Camorra werden hingenommen, denn Blut muß mit Blut gerächt werden wie in der Bibel, und die meisten Camorra-Bosse sind sehr fromm. Der größte aller Camorra-Paten, Carmine Alfieri, besaß in seinem Versteck eine Privatkapelle und stellte sich der Polizei, nachdem der Papst in einer Predigt bei Neapel ihn dazu aufgefordert hatte. Carmine Alfieri hatte damit seine Ehre wiederhergestellt - und darum geht es im Camorra-Krieg: die Ehre zu verteidigen, die der Staat nicht verteidigen kann oder will.

Als die 15jährige Tochter des Camorra-Bosses Giovanni Moliterno (41) im letzten November nach Hause kam und dem Papa sagte: "Ein Junge hat mir mein Moped geklaut, bring ihn um", da erklärte der Herr Papa der Tochter nicht, daß man Menschen nicht einfach erschießt. Vielmehr ging er hin und brachte den 17jährigen Dieb Salvatore Albino um. Dann ließ er sich verhaften. Der Mann weiß, daß niemand mehr wagen wird, seiner Tochter ein Unrecht anzutun, selbst solange er im Gefängnis sitzt, denn dann gibt es eine Organisation, die über die Ehre der Tochter wachen wird: die Camorra.