Winfried Kretschmann und Robert Habeck sprechen im Interview über neue Konkurrenten, das Altern der Grünen - und literarische Versuche.

Berlin. Winfried Kretschmann und Robert Habeck sind anders. Bei den Grünen gelten sie als Ausnahmepolitiker. Der eine, weil er als erster grüner Ministerpräsident Geschichte schrieb. Der andere, weil er spät in die Politik kam und Lagerdenken ablehnt. Das Abendblatt traf den baden-württembergischen Regierungschef und den schleswig-holsteinischen Spitzenkandidaten in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin.

Hamburger Abendblatt: Herr Kretschmann, Herr Habeck, Sie sind in Ihrer Partei beliebt, gelten aber nicht als typisch grün. Können Sie das erklären?

Winfried Kretschmann: Ich bin typisch grün. Wir sind jetzt eben die typischen Grünen.

Robert Habeck: Genau.

Sind typische Grüne heute anders als früher?

Habeck: Die Klischeegrünen sind ein Klischee. Zwar haben wir noch immer die Alt-68er, die die Partei mit gegründet haben. Aber eben auch die junge, dritte Generation. Ich hänge irgendwo dazwischen.

Kretschmann: Ich bin Gründungsmitglied und zähle zur 68er-Generation. Aber über die Jahre habe ich mich verändert und gelernt, dass Politik das Bohren dicker Bretter bedeutet. Ich würde sagen, wir sind heute erwachsen.

Sind die Grünen in Baden-Württemberg erwachsener als in Schleswig-Holstein? Immerhin stellen Sie dort den Ministerpräsidenten.

Kretschmann: Die grüne Bewegung hat im Südwesten begonnen. Wir sind dort einfach sehr tief verankert. Vielleicht sind wir dort etwas bürgerlicher.

Habeck: Ich dachte, dass die Grünen in Schleswig-Holstein gegründet wurden! Es gibt die Legende, dass die ersten grünen Kreisverbände von Föhr oder Sylt kamen.

Kretschmann: Ja, die waren damals Teil der ökolibertären Strömung.

Habeck: Dann sind wir beide ja jetzt sozusagen die Fortsetzung der Gründungsgeschichte der Grünen.

Wie muss am 6. Mai die Wahl in Schleswig-Holstein ausgehen, damit Sie beide zufrieden sind?

Kretschmann: Die Grünen müssen an der Regierung beteiligt sein.

Habeck: Und zwar mit einem guten Ergebnis. Der Anspruch der Grünen ist nicht nur, Avantgarde zu sein, die den Finger in die Wunde legt, aber die Lösung den anderen überlässt. Wir wollen die Verantwortung für die Lösung. Es macht deshalb einen Unterschied, ob wir drei Prozent mehr oder weniger machen. Nur bei Letzterem können wir richtig wirken.

Momentan scheinen vor allem die Piraten Wirkung zu entfalten.

Habeck: Der Unterschied zwischen Grünen und Piraten ist, dass die Grünen mit der Umweltfrage ein politisches Kernthema hatten. Das kann ich bei den Piraten nicht erkennen. Die Nagelprobe wird für sie in fünf Jahren sein. Ich glaube, sie werden es schwer haben.

Kretschmann: Wenn sich die Piraten im Parteiensystem verankern wollen, brauchen sie eine tragende Idee. Bisher sind die Piraten nur eine Protestpartei. Mit Forderungen wie jener nach einem Nulltarif bei Bus und Bahn kann man nicht ein Land regieren und noch nicht mal ernsthaft opponieren. Was mich auch stört, ist die Forderung nach einer Deregulierung des Internets. Es kann doch nicht sein, dass jeder online anonym auf den anderen losdreschen kann. Die Würde des Menschen gilt auch im Netz. Deshalb müssen wir es regulieren.

Habeck: Ich verstehe auch nicht, dass die Piraten einerseits Transparenz fordern, im Internet dann aber Decknamen in Ordnung sein sollen, unter denen man sich alles Mögliche erlauben kann. Das ist doch das Gegenteil von transparent. Standpunkte beziehen und als Person dafür einstehen, so ist es jedenfalls bei uns.

Vielleicht hilft den Piraten auch einfach ihr Image.

Habeck: Das ist so, der Name Piraten ist cool. Das macht Eindruck, gerade in Schleswig-Holstein. Und ein Segel im Logo zu haben, passt natürlich auch gut an die Küste. Aber wofür stehen sie? Sind sie für das Betreuungsgeld oder dagegen? Worauf soll verzichtet werden, um den kostenlosen Busverkehr zu bezahlen? Wenn es um eine neue politische Haltung geht, die über Protest hinausgeht, dann landen Sie wieder bei den Grünen. Wer die Piraten wählt, bekommt am Ende die Große Koalition.

Sind die Piraten trotzdem ein potenzieller Koalitionspartner?

Habeck: Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir brauchen nach zwei vorzeitigen Neuwahlen eine stabile Regierung in Schleswig-Holstein. Ich will mich auch nicht von einer Partei abhängig machen, die nicht weiß, was sie will.

Kretschmann: Die Piraten sind nicht regierungsfähig. Die Länder dürfen wegen der Schuldenbremse ab 2020 keine Schulden mehr machen. Das geht mit einer Partei nicht, die gewissermaßen denkt, das Geld wächst auf den Bäumen.

Das Land und die Regierungsparteien führen eine aufgeheizte Debatte um das Betreuungsgeld. Warum hören wir hier die Grünen nicht?

Habeck: Das liegt nicht an den Grünen. Ich habe mit rotem Kopf im Kieler Landtag geredet und alle Befürworter - so gut es ging - beleidigt. (lacht)

Familienministerin Kristina Schröder schlägt vor, das Betreuungsgeld nur dann zu zahlen, wenn Eltern mit ihren Kindern zum Kinderarzt gehen. Ein Kompromiss?

Habeck: Ich halte das Betreuungsgeld in jeglicher Form für falsch. Eine gute Lösung wäre, wenn die Regierung die Ausgaben für das Betreuungsgeld den Ländern zur Verfügung stellt. Wir in Schleswig-Holstein könnten es dann für den Kita-Ausbau verwenden.

Kretschmann: Es ist absurd und aberwitzig, dass Leute dafür belohnt werden, dass sie auf eine Leistung verzichten. Ich kann doch auch nicht jemandem, der kein Auto fährt, eine Prämie dafür geben, dass er die Straßen nicht abnutzt.

Herr Habeck, Sie sind eigentlich Schriftsteller. Hat Winfried Kretschmann das Zeug zur Romanfigur?

Habeck: Er hat das Zeug zur Hollywood-Figur!

Welchen Titel müsste ein Film über Kretschmann tragen?

Habeck: "Politischer Held des Alltags".

Herr Kretschmann, reizt es Sie zu schreiben?

Kretschmann: Nein. Ich schreibe ab und zu einen Essay, mal zu politischen, mal zu gesellschaftlichen oder religiösen Fragen. Das ist schon anstrengend genug. Ich werde mit Sicherheit keine Memoiren verfassen. Ich bin ein Provinzpolitiker, zwar von einem wichtigen, starken Land. Aber ich will mich nicht selbst überschätzen.

Habeck: Dann schreibe ich eine Biografie über dich.

Würden Sie beide sich als links bezeichnen?

Kretschmann: Nein.

Habeck: Halblinks. Im Handball sind es die Spieler auf der halblinken Position, die die Spiele entscheiden.

Wo sind die Grünen zu verorten?

Kretschmann: Links von der Mitte.

Sollte es demnach 2013 einen rot-grünen Lagerwahlkampf geben?

Kretschmann: Ich würde der Parteiführung davon abraten. Wenn wir eine starke Kraft sein wollen, müssen wir eigenständig operieren und uns nicht über andere definieren. Wir würden uns unnötig kleinmachen. Wir haben unsere eigene Agenda. Es ist unser Vorhaben, mit Rot-Grün die jetzige Bundesregierung abzulösen. Wenn es dazu nicht reicht, muss man gucken, was für Konstellationen möglich sind. Ich würde da nichts ausschließen. Mit dem Atomausstieg ist eine unüberwindbare Hürde zur Union jedenfalls geschrumpft.

Habeck: Koalitionen auszuschließen muss für die Grünen vorbei sein. Aber in der Grundausrichtung ist die Union nicht gleich nah an den Grünen wie die SPD. Die SPD bleibt unser erster Ansprechpartner.

Was schließen wir daraus für die Zukunft?

Kretschmann: Ob es wieder schwarz-grüne Bündnisse geben kann, wird man sehen. Die CDU hat ein taktisches Verhältnis zu uns. Die Union entdeckt Koalitionsmöglichkeiten erst, wenn ihr nichts anderes übrig bleibt. Das ist zu wenig. Ich war immer jemand, der in meiner Partei für Schwarz-Grün geworben hat. Der Gedanke dahinter war, den ökologischen Gedanken über eine wirtschaftsnahe Partei in die Wirtschaft zu tragen. Nun, das hat sich erübrigt, denn die Wirtschaft ist längst weiter als die CDU. Ich führe eine grün-rote Landesregierung. Wir haben ein gutes Klima in der Koalition, und wir bringen viel auf den Weg. Das ist doch erst mal viel besser, als Juniorpartner der CDU zu sein. Ich finde, auch im Bund gehört die Union in die Opposition. Da muss sie sich erneuern. Ich weiß aus 30 Jahren Opposition: Oppositionsbänke sind hart und regen das Denken an.

Herr Habeck, schließen Sie Schwarz-Grün in Kiel aus?

Habeck: Nach der Ypsilanti-Erfahrung in Hessen sollte man nichts mehr definitiv ausschließen. Das kann schnell zur Unregierbarkeit führen. Aber weder numerisch noch inhaltlich sieht es nach Schwarz-Grün aus. Wir wollen es mit der SPD versuchen.

Herr Kretschmann, Sie haben bewiesen, dass Sie Wahlen gewinnen können. Was darf Herr Habeck jetzt auf keinen Fall falsch machen?

Kretschmann: Robert macht das großartig. Er ist einer der besten Köpfe, die wir haben. Jetzt muss er im Endspurt ruhig und gelassen bleiben ...

Habeck: ... was schwer genug ist! Hat dir das auch einer drei Wochen vor der Wahl gesagt: Du musst nur ruhig und gelassen bleiben?

Kretschmann: Man muss als Wahlkämpfer akzeptieren, dass man gegen manche Strömungen wie die Piraten nichts machen kann. Die sind jetzt einfach da. Man muss von seiner eigenen Agenda überzeugt sein, und das ist der Robert. Das Kreuz machen sowieso die anderen.

Befinden Sie sich im Ausnahmezustand, Herr Habeck?

Habeck: Absolut. Von allen Enden Kräfte, die ziehen einen in den Tunnel. Der Alltag des Wahlkampfs besteht aus frühem Aufstehen, Terminhast ohne Ende. Dabei muss man sich immer wieder fragen: Bist du noch du selbst? Hast du noch die nötige Gelassenheit? Im Tunnel sieht man den Horizont nicht mehr. Ich versuche mich so gut es geht dagegen zu stemmen. Aber es ist ein Kampf.