Nach seiner Vereidigung vor Bundestag und Bundesrat am Freitag in Berlin hat Bundespräsident Joachim Gauck seine erste programmatische Rede gehalten.

Berlin. (...) Ich empfinde mein Land vor allem als das Land eines Demokratiewunders. Anders als die Alliierten fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegsdeutschland nie mehrheitsfähig, es gab ein Nachwirken nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde keine gestaltende Kraft. Es entstand eine stabile demokratische Ordnung, Deutschland West wurde Teil der freien westlichen Welt.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte allerdings blieb defizitär. Die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Nazi-Regimes prägte den damaligen Zeitgeist. Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert. (...)

(...) Auch jener Teil unserer Geschichte darf nicht vergessen sein, der die Neugründung einer politischen Kultur der Freiheit, die gelebte Verantwortung, die Friedensfähigkeit und die Solidarität unseres Volkes umfasst.

Das ist kein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur – das ist eine Paradigmenergänzung, die uns ermutigt: Das, was mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und sie nach besten Kräften – wenn auch nicht gleich ideal – zu lösen, ist eine große Ermutigung auch für die Zukunft.

Wie also soll es nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel „Unser Land“ sagen sollen?

Es soll „unser Land“ sein, weil „unser Land“ soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. Der Weg dazu ist nicht der einer paternalistischen Fürsorgepolitik, sondern ein Sozialstaat, der vorsorgt und ermächtigt. (...)

(...) Wenn die Zahl der Menschen wächst, die den Eindruck haben, ihr Staat meine es mit dem Bekenntnis zu einer gerechten Ordnung der Gesellschaft nicht ernst, sinkt das Vertrauen in die Demokratie. „Unser Land“ muss also ein Land sein, das beides verbindet: Freiheit als Bedingung von Gerechtigkeit – und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen. (...)

(...) Wir leben inzwischen in einem Staat, in dem neben die ganz selbstverständliche deutschsprachige und christliche Tradition Religionen wie der Islam getreten, auch andere Sprachen, andere Traditionen. In dem der Staat sich immer weniger durch die nationale Zugehörigkeit seiner Bürger definieren lässt, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft. In dem nicht ausschließlich die über lange Zeit entstandene Schicksalsgemeinschaft das Gemeinwesen bestimmt, sondern zunehmend das Streben von Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen: diesem unseren Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen. (...)

(...) Für eine einladende, offene Gesellschaft hat Bundespräsident Christian Wulff in seiner Amtszeit nachhaltige Impulse gegeben. Herr Bundespräsident Wulff, dieses – Ihr – Anliegen wird auch mir in meiner Amtszeit am Herzen liegen. (...)

(...) Gerade in Krisenzeiten ist die Neigung, sich auf die Ebene des Nationalstaats zu flüchten, besonders ausgeprägt. Das europäische Miteinander aber ist ohne den Lebensatem der Solidarität nicht gestaltbar. Gerade in der Krise heißt es deshalb: Wir wollen mehr Europa wagen. (...)

(...) Wir lassen uns unsere Demokratie nicht wegnehmen, wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. Und speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir in aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben. (...)

(...) Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Geschenk zu bitten: um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um Vertrauen zu denen, die in unserem Land Verantwortung tragen, wie ich diese um Vertrauen zu all den Bewohnern dieses wieder vereinigten und erwachsen gewordenen Landes bitte. Und davor wiederum bitte ich Sie, mutig und immer wieder damit zu beginnen, Vertrauen in sich selbst zu setzen. (...)

(epd)