Bundestag gedenkt der Opfer der Nationalsozialisten. Reich-Ranicki redet bewegend über das Schicksal der Warschauer Juden.

Berlin. Er käme als Zeitzeuge, nicht als Historiker sagte Marcel Reich-Ranicki am Freitag in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag. In einer bewegenden Rede erinnerte er an das Schicksal der Juden in Warschau. Als Deutsch-Übersetzer beim „Judenrat“ im Ghetto habe er „das Todesurteil diktiert, dass die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte." Während er die mörderischen Pläne protokolliert habe, hätten SS-Offiziere im Hintergrund „An der schönen blauen Donau“ und den Walzer „Wein, Weib und Gesang“ gehört. Sein Gedanke damals: „Das Leben geht weiter. Das Leben der Nichtjuden.“

Die Stimme des 91-jährigen Literaturkritikers ist leise und rau. Dennoch entwirft er ein eindringliches und beklemmendes Bild der Gräueltaten im Nationalsozialismus, beschreibt die Deportation der Bewohner des Warschauer Ghettos in Vernichtungslager. Dieses wurde ab dem 22. Juli 1942 durch die SS schrittweise aufgelöst und die Bewohner in Vernichtungslager geschickt, vor allem in das Konzentrationslager Treblinka: „Die ’Umsiedlung’ hatte nur ein Ziel, nur einen Zweck: den Tod“, sagt Reich-Ranicki. Am selben Tag heiratete er seine Frau Teofila (Tosia) Langnas, mit der er bis zu ihrem Tod 2011 zusammenblieb. Gemeinsam flohen sie aus dem Ghetto und lebten bis Kriegsende im Untergrund. Reich-Ranickis Eltern und sein Bruder wurden von den Nazis ermordet.

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An der Gedenkstunde am Freitag im Bundestag nahmen auch Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU) sowie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, teil. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sagte in einer Eröffnungsrede, Reich-Ranickis Schicksal stehe stellvertretend für das von Millionen Menschen, die verfolgt, vertrieben, gefoltert und ermordet wurden. Er sei „zutiefst dankbar“, dass der Literaturkritiker trotz seiner Erlebnisse mit Deutschland nicht nur die verachtenswerte Seite verbinde.

Lammert bezog sich des Weiteren auf den Antisemitismusbericht des Bundestags, der zu Wochenbeginn vorgestellt wurde. Demnach sind rund 20 Prozent der Deutschen „latent antisemitisch“. „Das ist für Deutschland genau 20 Prozent zu viel“, sagte Lammert unter großem Beifall der Abgeordneten.

Auch die beispiellose Mordserie durch Neonazis an Migranten und einer Polizistin habe vor Augen geführt, dass in Deutschland noch nicht das Ziel erreicht sei, dass alle Menschen frei und gleich und ohne Angst leben können, sagte der CDU-Politiker. Er hob jedoch hervor, dass viele Menschen seit der Aufdeckung der Morde Engagement und Zivilcourage gezeigt hätten: „Dieses Engagement werden wir brauchen und diesen Mut auch.“

Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog proklamiert und auf den 27. Januar festgelegt. An diesem Tag war 1945 das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit worden.