Die gesetzlichen Krankenkassen wollen die Beiträge wieder selbst erheben. Barmer-GEK-Chef Christoph Straub kritisiert im Interview die Politik.

Hamburg. Die gesetzlichen Krankenkassen schließen das dritte Quartal 2011 mit einem Milliarden-Plus ab. Doch Experten warnen bereits vor neuen Kostensteigerungen. Es geht um Zusatzbeiträge, die Pflegeversicherung und höhere Ausgaben für Krankenhäuser und Medikamente. Das Hamburger Abendblatt sprach mit Dr. Christoph Straub, Vorstandschef von Deutschlands größter Krankenkasse, der Barmer GEK.

Hamburger Abendblatt: Herr Straub, die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung ist hervorragend. Dieses Jahr bringt einen Milliardenüberschuss. Warum kann die Bundesregierung nicht einfach den einheitlichen Beitragssatz von 15,5 Prozent vom Bruttogehalt für die Versicherten senken?

Christoph Straub: Die Jubelmeldungen über das Plus der gesetzlichen Krankenversicherung von 3,9 Milliarden Euro sind nicht angemessen. Noch 2009 hatten wir eine Unterdeckung im Gesundheitsfonds. Die Einsparungen haben mittlerweile gegriffen, vor allem bei den Medikamenten. Aber schon jetzt ziehen insbesondere die Arzneimittel- und Krankenhausausgaben wieder an. Monat für Monat sehen wir einen Anstieg. Die wirtschaftliche Situation ist derzeit gut, wird aber schon bald wieder angespannt sein. Was wir jetzt erleben, ist also nur ein vorübergehendes Hoch. Zumal sich in 2013 die wirtschaftliche Lage voraussichtlich verschlechtern wird, während gleichzeitig die Ausgaben im Gesundheitswesen weiter steigen werden.

+++ Kassen wollen mehr Autonomie +++

Auch wenn die Barmer GEK keinen Zusatzbeitrag verlangt, würden Sie wieder selbst bestimmen wollen, wie viel Prozent Sie an Krankenkassenbeitrag vom Monatsgehalt verlangen?

Straub: Der Einheitsbeitrag und der Zusatzbeitrag, den jede Kasse erheben kann, wenn sie mit dem Geld aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommt, waren ja ein politischer Kompromiss der Großen Koalition. Ökonomisch sind die 8 Euro, die einige Kassen extra verlangen, eine kleine Größe. Aber am Markt ist das ein starkes Signal. Denn Kassen mit Zusatzbeiträgen haben Zehntausende Mitglieder verloren. Der Zusatzbeitrag fördert einen Wettbewerb um billige Preise. Wir wollen hingegen mehr Autonomie über unsere Finanzen, um mehr in neue Versorgungsmodelle, in Forschung und Entwicklung zu investieren. Diese Autonomie schließt die Beitragssatzgestaltung ein.

Sie haben mit den Vorstandskollegen unter anderem der TK und der HEK einen Brief an das Bundesversicherungsamt geschrieben und die finanzielle Schieflage der DAK angeprangert. Anschwärzen ist nicht die feine Art, einen Konkurrenten zu schwächen.

Straub: Ich sehe das nicht als ein Anschwärzen. Die Situation ist durchaus mit der in der Europäischen Union vergleichbar. Wir treten zwar immer noch als Ersatzkassen auf, aber der Name spielt nur im Zusammenhang mit der Herkunft eine Rolle. Heute kann jede Kasse für sich handeln, für die Folgen haften aber die anderen mit. Allein aus diesem Grund wollen wir eine Abschaffung von Zusatzbeiträgen gründlich hinterfragt wissen. Wir sehen uns übrigens mit der Warnung bestätigt, weil auch das Bundesversicherungsamt interveniert hat.

Wie viele Kassen gibt es noch am Ende des Jahrzehnts im Herbst 2019?

Straub: Vielleicht wird die Zahl schon unter 100 liegen. Das Finanzierungssystem bevorzugt größere Einheiten.

+++ Bundesregierung schiebt die Pflegereform an +++

+++ Gesetzliche Krankenkassen finanziell gesund +++

Die Ärzte beklagen sich über ihre Honorare und Mehrarbeit ohne Vergütung. Wie kann man das gerechter gestalten und für die Patienten transparenter machen, damit sie wissen, was Gesundheit kostet?

Straub: Das jüngst verabschiedete Versorgungsstrukturgesetz will hier neue Wege gehen. Es soll eine Regelung geschaffen werden, nach der Versicherte online Zugriff auf die Abrechnung zwischen Arzt und Krankenkasse erhalten. Wir sind sehr für mehr Transparenz. Aber das Abrechnungssystem ist so unverständlich, dass kaum jemand durchschauen wird, was da abgerechnet wurde. Und die Vergangenheit zeigt, dass das Interesse der Versicherten daran nicht besonders ausgeprägt ist. Ich glaube nicht, dass dieses Vorhaben überhaupt eine Auswirkung auf die Kosten haben wird. Ich wünsche mir, dass man vielmehr die Vergütungsregelungen für Leistungen im Krankenhaus und in der Arztpraxis angleicht. Die Zahl der Aufenthaltstage im Krankenhaus ist zurückgegangen, heute wird deutlich mehr ambulant behandelt. Früher ging man zur Chemotherapie ins Krankenhaus, nun kommt man vielleicht morgens, erhält eine Infusion und kann oft wenige Stunden später wieder nach Hause. Wir sollten die Strukturen so ändern, wie die Medizin das zum Wohle der Patienten ermöglicht.

Kann man Sanktionen gegen Ärzte verhängen, die Kassenpatienten deutlich später einen Termin geben als Privatpatienten?

Straub: Da sehe ich kaum eine Möglichkeit. Hier den Nachweis zu führen, das ist extrem schwierig. Wir vertrauen mehr darauf, dass wir als Barmer GEK ein Wartezeitenmanagement anbieten, damit Patienten schneller einen Termin beim Facharzt bekommen.

In der privaten Krankenversicherung steigen die Prämien zum Teil exorbitant. Wie sehen Sie die Zukunft des Nebeneinanders von privater und gesetzlicher Krankenversicherung?

Straub: Es gibt Äußerungen von großen Versicherungskonzernen, dass ihr Interesse an der Weiterführung der Krankenvollversicherung begrenzt ist. Das wird man spätestens nach der nächsten Bundestagswahl 2013 neu diskutieren. Wir haben eine klare Position: Es ist medizinisch wie politisch unmöglich, eine Grund- oder Basisversicherung für alle zu formulieren und den Rest den Privaten zu überlassen. Die gesetzliche Krankenversicherung muss unter allen Umständen eine Vollversicherung bleiben.

Bei der Reform der Pflegeversicherung hat man auch versucht, eine private Zusatzversicherung einzubauen. Wie bewerten Sie den Pflegekompromiss der Bundesregierung, nach der die Beiträge im kommenden Jahr minimal steigen?

Straub: Dieser Kompromiss ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, dem rasch weitere folgen müssen. Die große Aufgabe ist es, den Begriff der Pflegebedürftigkeit anzupassen, um die Versorgung der Demenzerkrankten zügig zu verbessern. Diese Erkrankung wird momentan in der Pflegeversicherung nicht angemessen berücksichtigt. Kritisch sehen wir den geplanten Einstieg in eine zusätzliche Kapital gedeckte Vorsorge. In der Pflegeversicherung bleibt das Umlageverfahren, also die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die richtige Finanzierungsform. Bis zum Jahr 2050 könnten die Beiträge wegen des Anstiegs der Pflegebedürftigen auf 3 bis 3,5 Prozent ansteigen. Aber das ist auch aus Sicht der Gesundheitsökonomie erträglich.