Thomas Frankenfeld stellt unsere Nachbarländer vor, analysiert ihr Verhältnis zu Deutschland und wie sie mit Flüchtlingen umgehen.

Der Stoßseufzer des früheren französischen Präsidenten Charles de Gaulle, wie man denn ein Land regieren solle, das 365 Käsesorten aufweise, ist längst zum geflügelten Wort geworden. Ein ähnliches Zitat, die gut 1500 deutschen Wurstsorten betreffend, ist nicht bekannt geworden. Und auch wenn es in Frankreich vermutlich noch weit mehr als 365 Käsesorten gibt, hat unser Nachbar ein paar größere Probleme als die Vielfalt an der Käsetheke.

Deutschland und Frankreich – das ist eine historische Hassliebe wie zwischen sehr unterschiedlichen Geschwistern. Und Geschwister sind wir, waren wir doch großenteils zu Zeiten Karls des Großen, der auf der anderen Seite des Rheins Charlemagne heißt, im Fränkischen Reich vereint – eines frühen Vorläufers der Europäischen Union. Doch die Erben des großen Karls verspielten die Einheit; der Teilungsvertrag von Verdun vom 10. August 843 führte in der Folge zur Entstehung von Frankreich und Deutschland.

Während sich Frankreich früh zum National- und Zentralstaat entwickelte und vor allem während der Herrschaft des Sonnenkönigs Ludwig XIV. und des korsischen Kaisers Napoleon zum mächtigsten Staat Europas wurde, dümpelten die deutschen Teilstaaten im losen Rahmen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als bunter Flickenteppich vor sich hin.

Die Staatspräsidenten spreizen sich oft in glanzvoller Machtfülle

Und auch dies hat die Nachbarschaft geprägt: Der deutsche Nationalgedanke keimte schon zart im Abwehrkampf gegen Napoleon, damals entstanden die späteren deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold. Das deutsche Kaiserreich wurde von Otto von Bismarck nach dem Sieg über Frankreich 1871 aus der Taufe gehoben.

Flächenstaat:

Noch heute ist Frankreich, nach Russland und der Ukraine, der drittgrößte Flächenstaat Europas, ein weitgehend zentral gelenkter Staat. Politisch geführt von der Hauptstadt Paris aus, die in der Agglomeration bis zu zwölf Millionen Einwohner hat. Frankreich ist also kein föderaler Staat wie die Bundesrepublik, in der viele Themen der Politik in den Bundesländern dezentral organisiert werden. Frankreichs Staatspräsidenten, vor allem starke wie der Sozialist François Mitterrand, der von 1981 bis 1995 regierte, spreizen sich oft in glanzvoller Machtfülle wie einst der vierzehnte Ludwig, doch auch schwache, wie der amtierende François Hollande, tun dies gern.

Der Kriegsheld General Charles de Gaulle, 1944 bis 1946 zunächst Chef einer provisorischen Regierung, der Frankreich dann von 1958 bis 1969 als Staatspräsident führte, schuf in bewusster Abgrenzung von der exekutiv schwachbrüstigen und politisch instabilen Vierten Republik per neuer Verfassung die Fünfte Republik mit einem starken, von der Legislative unabhängigen Präsidenten. Das Land ist seit 2016 in 18 Regionen aufgeteilt, wovon fünf die Überseegebiete – Französisch-Guayana, Guadeloupe, Martinique, Ma­yotte und Réunion – betreffen.

Die französische Struktur begünstigt schnellere Entscheidungen; andererseits ist der politische Moloch Paris weitaus anfälliger für Nepotismus und die dauerhafte Etablierung von Eliten. Die erhalten ihre Ausbildung meist in der berühmten Ecole Nationale d’Administration (ENA). Kaum ein Minister, Staatspräsident oder Spitzendiplomat, der sie nicht durchlaufen hat.

Politik und Verwaltung:

Der alte Zentralstaat mit dem sich selbst schützenden „enarchischen“ System macht es ungeheuer schwer, schmerzhafte Reformen einzuleiten, wie dies in Deutschland geschehen ist. Politik, Verwaltung, Gewerkschaften und andere Kräfte leisten zähen Widerstand gegen jeden Versuch, ihre Privilegien zu beschneiden. An dem enormen Reformstau in einer globalisierten Wirtschaftswelt leidet Frankreich; sein Schuldenstand ist auf 96 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gestiegen. Seit der Einführung des Euro hat Frankreichs Exportwirtschaft ein Drittel seiner Weltmachtanteile verloren; das Wachstum kam nahezu zum Stillstand.

Doch auch so ist das Land nach Deutschland immer noch die zweitstärkste Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union. Es ist ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat und unterhält die größten Streitkräfte in der EU, denen zudem das weltweit drittgrößte Arsenal an Atomwaffen zur Verfügung steht.

Tourismus:

Frankreich, mit mehr als 80 Millionen Touristen im Jahr das meistbesuchte Land der Erde, hat kulturell ungeheuer viel zu bieten. Teil dieser Kultur ist auch das Erbe der Aufklärung. Es waren nicht zuletzt Denker wie Jean-Jacques Rousseau, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, Montesquieu oder Voltaire, die Ratio und Zweifel über das religiöse und politische Dogma setzten. Die französischen Ideen von Gewaltenteilung, Freiheit und Gleichheit wurden zuerst in den USA staatsbildend umgesetzt und fanden ihren Weg dann nach Europa zurück. Frankreich ist der Verfassung nach ein laizistisches Land, das heißt, Staat und Religion sind getrennt. Es ist ein anderes Staatsverständnis, als es viele der muslimischen Einwanderer haben, zum Beispiel jene aus nordafrikanischen Staaten wie Algerien, Marokko und Tunesien – früheren französischen Protektoraten.

Religion:

Die Religionszugehörigkeit wird in Frankreich nicht offiziell erfasst, aber in Umfragen bezeichnen sich mehr als 50 Prozent der 66 Millionen Franzosen als Katholiken, gut 30 Prozent sind nicht religiös und fast zehn Prozent sind Muslime. Von den einst über 500.000 Juden sind in den vergangenen fünf Jahren mehr als 100.000 emigriert, vor allem wegen zunehmender Angriffe radikaler Muslime.

Die Radikalisierung von Muslimen ist auch der prekären Wohnstruktur der Banlieues geschuldet. Das Wort, aus dem Lateinischen bannum leucae für Bannmeile stammend, bezeichnete ursprünglich verstädterte Gebiete außerhalb eines Stadtzentrums. In den 1950er-Jahren ließ die Regierung Hochhaussiedlungen am Rande der großen Städte wie Paris, Lyon oder Marseille errichten. Sie sollten den enormen Wohnraummangel lindern, unter dem vor allem ärmere Industriearbeiter litten. Diese Banlieues boten zunächst komfortable Bedingungen, allerdings wurde oft minderwertige Bausubstanz verwendet, die rasch zerfiel. Der Wirtschaftsaufschwung der „Trente Glorieuse“ von 1946 bis zu den Ölkrisen 1973/79 schwächte sich ab. Viele Arbeiter zogen fort, es rückten Einwanderer aus den ehemaligen Protektoraten in Nordafrika in die leer stehenden Wohnungen nach. Die Banlieues wurden zu Orten der Hoffnungslosigkeit, des Verfalls, vor allem der politischen Vernachlässigung und daher der Wut und Radikalisierung. Gesellschaftlich führte eine Adresse in diesen „quartiers sensibles“ zur Stigmatisierung.

Gewaltexzesse in Gentilly, vier Kilometer südlich vom Pariser Zentrum. In dem Ort leben viele Einwanderer
Gewaltexzesse in Gentilly, vier Kilometer südlich vom Pariser Zentrum. In dem Ort leben viele Einwanderer © picture alliance | Michel Spingler

Als im Herbst 2005 zwei Jugendliche aus dem Maghreb vor der Polizei in ein Trafohäuschen flüchteten und dort an einem Stromschlag starben, explodierten die Banlieues in ganz Frankreich in einer Gewalteruption. Mehr als 10.000 Autos gingen in Flammen auf; Hunderte öffentlicher Gebäude – Schulen, Polizeiwachen, Kindergärten, Sporthallen – wurden zerstört.

Seit den Anschlägen vom 13. November 2015 ist der Ausnahmezustand verhängt

Der damalige Innenminister und spätere Staatspräsident Nicolas Sarkozy versprach, die Banlieues mit dem Kärcher, dem Hochdruckreiniger, vom „Gesindel“ zu säubern. Auch in den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Ausschreitungen in den Vorstädten. Frankreichs derzeitiger Premierminister Manuel Valls hat mit Blick auf die Banlieues vor einer „territorialen, ethnischen und sozialen Apartheid“ gewarnt.

Die Banlieues werden oft als Beispiel für eine gescheiterte Integration, aber auch für mangelhafte Stadtpolitik angeführt. Jedenfalls sind sie Brutstätten jenes militant radikalen Islamismus, der hinter den jüngsten Terrorakten in Frankreich steckt. Zwei der Attentäter von Paris kamen von dort.

Eine neue Statistik der Regierung, die diese geheim halten wollte, die aber der Zeitung „Le Figaro“ zugespielt wurde, zeigt, dass sich die Zahl der radikalislamischen „Gefährder“ seit März 2015 auf mehr als 8200 verdoppelt hat.

Land unter Schock: Bürger gedenken ein Jahr nach dem Charlie-Hebdo-Anschlag im Januar 2016 der Opfer
Land unter Schock: Bürger gedenken ein Jahr nach dem Charlie-Hebdo-Anschlag im Januar 2016 der Opfer © picture alliance | Artur Widak

Seit den Anschlägen vom 13. November 2015 herrscht in Frankreich der Ausnahmezustand, der leichter polizeiliche Maßnahmen gegen Terrorverdächtige erlaubt. Am 30. Januar gingen in 80 französischen Städten Zehntausende Bürger auf die Straßen, um gegen Pläne der Regierung zu protestieren, den Ausnahmezustand über den 26. Februar hinaus um drei Monate zu verlängern. Der Status des Ausnahmezustands soll sogar in die französische Verfassung aufgenommen werden. Im Streit darüber mit Präsident Hollande und Premierminister Valls trat Justizministerin Christiane Taubira zurück.

Auch angesichts des kometenhaften Aufstiegs des rechtsextremen und rassistischen Front National unter seiner Chefin Marine Le Pen zur mindestens drittstärksten Kraft in Frankreich ist die französische Asylpolitik in der Flüchtlingsfrage deutlich restriktiver als die deutsche. Im vergangenen Jahr wurden in Frankreich weniger als 80.000 Asylanträge registriert – in Deutschland waren es fast eine halbe Million bei mehr als einer Million Flüchtlingen. Der französische Rechnungshof kritisierte, es gelinge der Regierung nicht, eine effiziente Asylpolitik zu betreiben, die den Rechten der Bewerber entspreche. Frankreich ist für die Flüchtlinge auch eher Transitland, etwa nach Großbritannien. In Calais am Eurotunnel entstanden prekäre Zeltlager, immer wieder kamen Menschen beim Versuch, gewaltsam den Tunnel zu stürmen, ums Leben. Teile der örtlichen Bevölkerung protestieren wütend gegen diesen Ansturm.

Den rationalen Franzosen sind die manchmal recht gefühligen Deutschen etwas unheimlich; das gilt durchaus auch für die merkelsche Willkommenskultur. Und doch sind sie sich der Tatsache bewusst, dass das Tandem Deutschland und Frankreich nicht nur das politische Kraftzentrum, sondern auch das Herz der Europäischen Union darstellt.

Hier geht es zum ersten Teil der Abendblatt-Serie

Streitpunkt Flüchtlingspolitik: Das Dilemma mit den Polen