Das Verfassungsgericht verhandelt ab heute darüber, ob Gewalttäter nachträglich weggesperrt werden dürfen. Streit mit europäischem Gericht droht.

Hamburg/Karlsruhe. Es ist eine simple Frage, die die höchsten europäischen und deutschen Richter gegeneinander aufbringt. Darf man einen Verbrecher vor Gericht zu einer Haftstrafe verurteilen, ihn einsperren - und ihm nach Verbüßung seiner Strafe die Freilassung verweigern? Man darf, sagte 2004 auch das Bundesverfassungsgericht. Man darf es nicht, urteilte dagegen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fünf Jahre später.

Am heutigen Dienstag beginnt vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe die Verhandlung, die diese Frage nun endgültig klären soll. Nach dem EGMR-Spruch legten vier Häftlinge Verfassungsbeschwerde gegen ihre fortdauernde Haft ein. Dabei muss Karlsruhe vor allem eine Altfallregelung für Täter prüfen, die vor 1998 verurteilt wurden. Bei deren Verurteilung war die Sicherungsverwahrung noch auf zehn Jahre begrenzt. Danach wurde diese Grenze aufgehoben und rückwirkend auch für Betroffene unbeschränkt verlängert. Dennoch wird aus Karlsruhe ein Grundsatzurteil zum gesamten Komplex Sicherungsverwahrung erwartet. Es ist ein Prozess, dem eine maximale Aufmerksamkeit gewiss ist, denn schon nach dem Urteilsspruch aus Straßburg 2009 mussten 30 von bundesweit insgesamt rund 500 Sicherungsverwahrten aus deutschen Gefängnissen entlassen werden, auch in Hamburg. 80 weitere könnten folgen. Um die Bevölkerung zu beruhigen, lassen die Bundesländer die meisten Freigelassenen seitdem unter einem enormen Personalaufwand rund um die Uhr bewachen.

Auch die Bundesregierung erwartet den Ausgang des Prozesses mit Spannung: Nach Angaben ihres Ministeriums will Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) persönlich zu Verhandlungsbeginn in Karlsruhe erscheinen. Denn die Richter werden mit ihrem Urteil auch über die von Leutheusser-Schnarrenberger mitgetragene Reform der Sicherungsverwahrung entscheiden.

"Es ist mir klar, das wir uns mit dem Therapie- und Unterbringungsgesetz im Grenzbereich des verfassungsrechtlich Möglichen bewegen", räumt Siegfried Kauder (CDU), der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages, gegenüber dem Hamburger Abendblatt ein. Der Rechtspolitiker weiß: "Es handelt sich um einen rechtspolitisch außerordentlich schwierigen Bereich, eine Abwägung zwischen Freiheitsrechten und der inneren Sicherheit." So hat die Koalition mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 die nachträgliche Sicherungsverwahrung abgeschafft, den Straftatenkatalog für die Sicherungsverwahrung auf schwere Gewalt- und Sexualstraftaten begrenzt und in einem Therapie- und Unterbringungsgesetz (ThuG) eine großzügigere Unterbringung der Verwahrten beschlossen.

Ganz wohl ist vielen Rechtspolitikern angesichts der Vorgänge in Karlsruhe nicht: Trotz der Kritik aus Straßburg hält die Bundesregierung an der Sicherungsverwahrung fest, zudem versucht sie darum herumzukommen, Straftäter, die bereits in der Vergangenheit nach ihrem Urteil in Sicherungsverwahrung gesteckt wurden, freilassen zu müssen. Wird Karlsruhe dabei mitspielen und einen Konflikt mit Straßburg riskieren?

Renate Jaeger, die bis zum Jahreswechsel deutsche Richterin am EGMR war, hofft, dass das Bundesverfassungsgericht die Freilassung der Karlsruher Beschwerdeführer anordnet. In der "taz" warnte Jaeger das Gericht, eine Entlassung zu verhindern. "Dann müsste Deutschland aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aussteigen und könnte in Europa andere Staaten kaum noch glaubwürdig zur Einhaltung der Menschenrechte mahnen. Das wird wohl niemand ernsthaft wollen", sagte Jaeger. "Wer konventionswidrig inhaftiert ist, muss entlassen werden, auch wenn es für den jeweiligen Einzelfall noch kein Urteil aus Straßburg gibt", betonte Jaeger.

Dieter Wiefelspütz, rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, teilt diese Auffassung nicht: "Man kann das Straßburger Gericht durchaus auch kritisieren, schließlich sind die Strafen bei schweren Verbrechen in Deutschland grundsätzlich geringer als in anderen europäischen Ländern." Es gebe also einen höheren Bedarf nach einem Instrument wie der Sicherungsverwahrung. "Ich halte das Therapie- und Unterbringungsgesetz für ausreichend, meiner Ansicht nach ist die Sicherungsverwahrung in Deutschland rechtmäßig", sagt Wiefelspütz dem Abendblatt. Möglich sei jedoch, dass die Richter bestimmte organisatorische und praktische Nachbesserungen bei der Unterbringung der Verurteilten forderten. Ein Punkt, mit dem die deutschen Justizpolitiker wohl sehr gut auskommen könnten.