Heftige Proteste bei Angela Merkels Besuch im Atomkraftwerk Lingen. Der Bremer Senator Loske warnt vor Gefahren für Norddeutschland.

Lingen/Berlin. Jetzt hat sie sich erstmals festgelegt: Die Atomkonzerne sollen nach dem Willen von Bundeskanzlerin Angela Merkel neben der geplanten Brennelementesteuer auch auf einen Beitrag zur Förderung der erneuerbaren Energien verpflichtet werden. Bei einem Besuch im Atomkraftwerk Emsland in Lingen ließ sie aber offen, in welcher Form der Beitrag erbracht werden muss.

„Ich verwende ausdrücklich nicht das Wort Abgabe“, sagte Merkel nach einem Rundgang und einem Gespräch mit den beiden Vorsitzenden der Energiekonzerne E.on und RWE. „Das alles bettet sich ein in eine Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke, die ich persönlich für notwendig und auch absehbar halte“, sagte Merkel. Mehrere Hundert Demonstranten protestierten vor dem Reaktor gegen eine mutmaßliche Kungelei der schwarz-gelben Bundesregierung mit den Atomkonzernen und verlangten ein schnelles Abschalten der Reaktoren.

Der Bremer Umweltsenator Reinhard Loske nannte die Pläne zur Laufzeitverlängerung eine Gefahr besonders für Nordwestdeutschland. Zusätzlicher Atomstrom würde die Netze verstopfen und den Ausbau von Windkraft auf hoher See behindern, sagte der Grünen-Politiker der Nachrichtenagentur Reuters. Diese sei mittlerweile für die Küstenregion ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Ihre Energiereise hatte sich die Bundeskanzlerin anders vorgestellt. Erst die Windkraftanlagen in „ihrem“ Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, dann ein Abstecher zum Atomstrom – und schließlich wieder Besuche bei alternativen Stromerzeugern. Das hätte ein tolles Programm werden können, um das neue Energiekonzept der Bundesregierung einzuleiten, das im September vorgestellt werden soll. Doch es kam anders.

Mitten im heftig tobenden Streit um die Verlängerung der Laufzeiten hat Angela Merkels Besuch im niedersächsischen Lingen einen ebenso heftigen Protest ausgelöst. Gemeinsam mit dem Chef des Energiekonzerns RWE, Jürgen Großmann, besichtigt sie den Meiler, der vor 22 Jahren ans Netz ging. Begleitet wurde die Kanzlerin auch von Umweltminister Norbert Röttgen (CDU). Proteste gab es auch schon vor Merkels Ankunft. Die Polizeiinspektion Emsland teilte mit, zehn Greenpeace-Aktivisten hätten die Worte „Atomkraft ist ein Irrweg, Frau Merkel!“ an den Kühlturm des Atomkraftwerks projiziert.

Die Bundesregierung nimmt in ihren Modellen für längere Atomlaufzeiten voraussichtlich niedrigere Ziele für den Anteil an Ökostrom an als bisher geplant. Das geht nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur aus einem Zwischenbericht der Gutachter für die Energieszenarien hervor. Während der Nationale Aktionsplan für erneuerbare Energie einen Öko-Stromanteil von 38,6 Prozent für 2020 anpeilt, geht die Regierung im Zwischenbericht in zwei Modellen von rund 35 Prozent aus und in einem Vergleichsmodell ohne längere Laufzeiten von rund 34 Prozent.

Das Kabinett hatte den Aktionsplan Anfang August beschlossen. Greenpeace-Energieexperte Andree Böhling kritisierte: „Unglaublich, wie die Bundesregierung an den Zahlen herumfummelt, um ihre Laufzeitverlängerung zu rechtfertigen.“

Der Interims-SPD-Fraktionschef Joachim Poß kritisierte die „Energie-Reise“ der Kanzlerin in den „Ruhr-Nachrichten“ als „reine Showveranstaltung“. Röttgen forderte derweil in der ARD-Sendung „Hart aber fair“, dass die Brennelementesteuer auch für die Sanierung des Atommülllagers Asse in Niedersachsen verwendet wird. „Der eine Verwendungszweck: Die Brennelementesteuer dient der Sanierung Asse, eines gescheiterten, maroden Endlagers.“ Außerdem solle die geplante Steuer der Konsolidierung des Bundeshaushalts dienen. Das ist im Gesetzentwurf für die Brennelementesteuer vereinbart. Das Kabinett berät am 1. September über eine Abgabe in Höhe von 2,3 Milliarden Euro pro Jahr für die Atomwirtschaft.