Kaum haben SPD und Grüne in den Umfragen wieder eine Mehrheit, attackieren sie sich gegenseitig mit Engagement.

Hamburg. Die Umfragen bescheinigen ihnen eine absolute Mehrheit, in Nordrhein-Westfalen ist SPD und Grünen bereits der Machtwechsel gelungen, und selbst auf Großdemonstrationen zeigt sich das Spitzenpersonal nur zu gern Seit' an Seit'. Die vergangenen Monate hatten den Anschein einer rot-grünen Auferstehung. Solange man sich in der Opposition nicht miteinander auseinandersetzen musste, sondern gemeinsam schwarz-gelbe Streitereien belächeln durfte, sind sich SPD und Grüne nicht in die Quere gekommen.

Mit dem rot-grünen Einklang ist es nun erstmals vorbei. Die Parteien giften einander wie in einem vorgezogenen Koalitionsstreit an. Offenbar ist Sigmar Gabriel ungeduldig geworden: Der SPD-Vorsitzende will wissen, woran er bei den Grünen ist. Die Partei müsse sich entscheiden zwischen Bündnissen mit der CDU oder den Sozialdemokraten, fordert er. Regierungsbildung sei "mehr als eine Rechenaufgabe", sagte er der "Tageszeitung". Die Grünen sollten die Frage beantworten, wofür sie am Ende stehen wollen, so Gabriel weiter. Der SPD-Chef warf der Partei zudem inhaltliche Beliebigkeit und eine zu einseitige Ausrichtung auf Ökothemen vor. Außerdem vernachlässigten die Grünen die Finanz- und Sozialpolitik, kritisierte Sigmar Gabriel.

So viel Mäkelei am Wunschpartner für zukünftige Koalitionen haben die Grünen schon sehr lange nicht hören müssen. Die angegriffene Partei reagiert entsprechend gereizt: Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, verbat sich gestern gleich mehrfach "Belehrungen in Grundfestigkeit" und verwies auf die Koalitionen der SPD mit der Linkspartei in Berlin und Brandenburg sowie auf die Koalitionen mit der CDU in Thüringen und Sachsen-Anhalt.

Die plötzliche Nervosität hat einen Grund: Bis zur nächsten Bundestagswahl sind es zwar noch drei Jahre, aber die Parteien stehen vor einem Superwahljahr auf Länderebene - und sie stehen vor der Frage, wo Rot-Grün außerhalb von Nordrhein-Westfalen und Bremen demnächst noch regieren könnte. Die SPD steht unter besonderem Druck. Allein im kommenden Jahr will sie in vier Landtagen - Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Rheinland-Pfalz - ihre Regierungsmacht verteidigen und in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt die Union stürzen.

Die Grünen können den Sozialdemokraten dabei aber gefährlich werden. In Berlin etwa könnten 2011 erstmals die Grünen stärkste Kraft in einem Bundesland werden. In Baden-Württemberg liegen die Grünen nach einer aktuellen Erhebung nur fünf Prozentpunkte hinter der SPD. Die Partei sieht Gabriels Aussagen daher auch als Attacke auf ihren Höhenflug in den Umfragen, in denen sie - etwa bei der Sonntagsfrage - derzeit in Richtung 20-Prozent-Marke hinaufschweben. Manchen in der Partei kommen die Sätze des SPD-Chefs wie die Aufkündigung des oppositionellen Koalitionsfriedens vor.

Grünen-Chefin Claudia Roth geht von einem Ablenkungsmanöver Gabriels aus, um dem parteiinternen Streit um die Rente mit 67 auszuweichen. Roth sagte dem Abendblatt mit Blick auf den Rentenstreit: "Ich freue mich über die Debatte mit Sigmar Gabriel und hoffe, dass er sich angesichts der Differenzen in seiner eigenen Partei dabei wohlfühlen wird." Zu inhaltlichen Auseinandersetzungen mit SPD und Linkspartei seien die Grünen "selbstverständlich jederzeit bereit", betonte sie. "Das heißt aber keine Koalition in der Opposition, zumal es gerade in der Frage der Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme erhebliche Unterschiede mit der Linkspartei und dem Teil der Gabriel-SPD gibt, die ihr wahltaktisches Heil eher in der Vergangenheit als in zukunftsorientierten Modellen sucht."

Roth reagierte damit auch auf Linken-Fraktionschef Gregor Gysi, der SPD und Grüne zuvor zu Gesprächen über die Sozial- und Rentenpolitik aufgefordert hatte. "Wir sollten anfangen, über diese Dinge gemeinsam nachzudenken", hatte Gysi der "Saarbrücker Zeitung" gesagt. Es gehe darum, Alternativen zur herrschenden Politik zu formulieren, so Gysi. Die Rente mit 67 sei grundsätzlich falsch. Denn sie bedeute für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Rentenkürzung. Die von der SPD vorgeschlagene Aussetzung der Rente mit 67 "ist zwar richtig, aber reicht nicht aus".

Was der Fraktionsvorsitzende nur andeutete, könnte nun zur ernsthaften Probe für SPD, Grüne und Linkspartei werden. Im Abendblatt kündigte Linken-Parteivize Sahra Wagenknecht an: "Wir werden noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf zur Aussetzung der Rente mit 67 im Bundestag zur Abstimmung stellen." Die Linken-Bundestagsabgeordnete will den Gesetzentwurf auch als Test für eine rot-rot-grüne Kooperationsfähigkeit einbringen. "Wir hoffen, dass die Opposition wenigstens diesen Minimalkonsens ausnutzen wird, um etwas für die Menschen zu erreichen."

Auch viele im Regierungslager seien von der Einführung der Rente mit 67 zu diesem Zeitpunkt nicht überzeugt, so Wagenknecht. Sie betonte: "Wir können Merkel in dieser wichtigen Frage eine Abstimmungsniederlage zufügen. Die SPD sollte sich eigentlich in der Pflicht fühlen, so wenigstens einen Teil der Schuld, den sie als einstige Initiatorin der Rente mit 67 auf sich geladen hat, wieder abzutragen."